Widerspruch im Herzen der Physik

Die Quantenmechanik beschreibt, was die Welt im Kleinsten zusammenh?lt. Die Relativit?tstheorie erkl?rt die Welt in kosmischen Dimensionen. Das Problem: Die beiden sind nicht miteinander vereinbar, und ein alles vereinendes Bild ist nicht in Sicht.

Skulptur, die auf einem Marmorsockel steht. Krümmungen umfassen einen in der Mitte stehenden kleinen Globus.
Dieses Bild hat die KI-?Software Midjourney aufgrund des Prompts ?sculpture of watch curvature of space-time on a pedestal, hyperrealistic sculptures, pastel colours? geschaffen. (Bild: Sir Mary / Midjourney)

Von Lasern, Elektronenmikroskopen und Atomuhren über bildgebende Verfahren in der Medizin bis hin zur modernen Elektronik mit ihren Halbleitern: Ohne die Quantenmechanik w?ren viele Technologien heute undenkbar. Kaum eine andere wissenschaftliche Theorie wurde seit ihrer Begründung vor 100 Jahren derart oft und genau best?tigt. Drei der vier fundamentalen Kr?fte in der Physik, welche die Welt im Kleinen zusammenhalten, beruhen auf Konzepten der Quantenphysik: der Elektromagnetismus, der für allt?gliche Ph?nomene wie Licht, Elektrizit?t und Magnetismus verantwortlich ist, die starke Kernkraft, die Atome zusammenh?lt, und die schwache Kernkraft die Atomkerne radioaktiv zerfallen l?sst.

Die vierte Grundkraft der Physik, die unser Universum zusammenh?lt und das Verhalten von Planeten erkl?rt, bleibt für die Quantenmechanik jedoch bis heute ein R?tsel: die Gravitation. So gut die Quantenmechanik die Wechselwirkung von Teilchen auf mikroskopischer Ebene erkl?rt, so sehr st?sst sie bei gr?sseren Objekten, die der Schwerkraft unterliegen, an ihre Grenzen. ?Trotz zahlreicher Versuche von Koryph?en wie Albert Einstein, Richard Feynman oder Stephen Hawking gelang es bis heute nicht, die Gravitation quantenphysikalisch zu erkl?ren?, sagt Renato Renner, Professor für Theoretische Physik an der ETH Zürich. In der makroskopischen Welt gilt nach wie vor eine Theorie, die ?hnlich wie die Quantenmechanik seit über 100 Jahren durch zahlreiche Experimente best?tigt wurde: die Allgemeine Relativit?tstheorie Albert Einsteins. Ohne sie würden weder unsere GPS-Ger?te noch unsere Uhren genau funktionieren.

Alles in Ordnung im Reich der Physik, k?nnte man meinen. Doch weit gefehlt: Denn die Beschreibung des ganz Kleinen passt nicht zum Bild vom ganz Grossen. ?Die Allgemeine Relativit?tstheorie ist mit den Prinzipien der Quantenmechanik nicht vereinbar?, sagt Renner. Deshalb tr?umen viele Physikerinnen und Physiker seit Jahrzehnten davon, die beiden Theorien zu einem einheitlichen Bild der physikalischen Welt zu vereinen. Bisher vergeblich.

Krümmung der Raumzeit

1915 ver?ffentlicht Albert Einstein seine Allgemeine Relativit?tstheorie und bringt damit unser traditionelles Weltbild ins Wanken. Anders als Isaac Newton knapp 200 Jahre vor ihm beschreibt er die Gravitation nicht mehr als Kraft, die von der Masse und der Entfernung zweier Planeten abh?ngt, sondern führt ein neues Konzept in die Physik ein: die Raumzeit. ?Einstein verschmilzt den uns bekannten dreidimensionalen Raum mit der Zeit zu einem vierdimensionalen mathematischen Gebilde. Er erkl?rt die Gravitation geometrisch durch die Krümmung der Raumzeit?, sagt ETH-Professor Renner.

Nach diesem Bild erzeugen schwere Objekte wie Planeten Dellen in der Raumzeit. Deren Geometrie wiederum bestimmt, wie sich Objekte darin fortbewegen. Vereinfacht erkl?rt: Die Raumzeit ist wie ein Trampolin, auf dem eine schwere Kugel eine Delle erzeugt. Legt man einen Tennisball an den Rand, rollt er die Krümmung hinab auf die schwere Kugel zu. Mit dem Konzept der Raumzeit l?sst sich zum Beispiel erkl?ren, warum Uhren in einem Flugzeug schneller laufen als auf der Erde. Auch die spezielle Bahn, auf der der Planet Merkur um die Sonne kreist, war durch Einsteins Theorie pl?tzlich kein R?tsel mehr.

Die Unsch?rfe der Quantenwelt

Etwa zeitgleich mit Einstein erschüttern Physiker wie Werner Heisenberg, Niels Bohr oder Erwin Schr?dinger unser Bild von der Welt im Kleinen. Dort, wo Elektronen, Protonen und andere Elementarteilchen st?ndig in Bewegung sind und sich anziehen und abstossen, herrschen eigene Gesetze. W?hrend wir die Bahnen der Planeten mit Einsteins Formeln so genau berechnen k?nnen, als würden sie auf Schienen um die Sonne kreisen, gilt diese Eindeutigkeit für die Objekte der Quantenwelt nicht mehr. Im Mikrokosmos der Atome und Teilchen gibt es solche Bahnen nicht, und an die Stelle des Determinismus der klassischen Physik treten probabilistische Aussagen. ?Ein Elektron oder ein Proton kann an mehreren Orten gleichzeitig sein. Erst wenn wir es messen, hat es einen bestimmten Ort. Für diesen k?nnen wir vorab nur mehr eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ermitteln?, erkl?rt ETH-Professorin Anna Soter, die am Institut für Teilchenphysik forscht.

Solche Unsch?rfen sind in der Allgemeinen Relativit?tstheorie jedoch nicht vorgesehen. Denn wenn ein Teilchen gleichzeitig an mehreren Orten ist, l?sst sich nicht mehr berechnen, wo es die Delle in der Raumzeit erzeugt. Und dass auch kleinste Objekte die Raumzeit krümmen und damit die Gravitation beeinflussen, gilt als unbestritten. Schliesslich haben sie Masse, genau wie gr?ssere Objekte. Da die Erde letztlich aus Teilchen besteht, denken viele Physikerinnen und Physiker, dass die Allgemeine Relativit?tstheorie in die Quantenmechanik integriert werden müsste. Doch bis heute ist unklar, wie sich die Gravitation aus diesen Teilchen und ihren unscharfen Bewegungen ergeben soll.

Gravitation als Information

Es gibt eine Reihe von Theorien, die versuchen, die Gravitation quantenphysikalisch zu erkl?ren. Dazu geh?ren etwa die Stringtheorie oder die Schleifenquantengravitation. Ein neuerer Ansatz, der am Lehrstuhl von ETH-Professor Renato Renner verfolgt wird, nennt sich ?It from Qubit?. Dahinter steht die Annahme, dass sich die Eigenschaften der Raumzeit durch miteinander verschr?nkte Informationsh?ppchen – sogenannte Qubits – beschreiben lassen. Sie ist nicht mehr reine Geometrie, wie bei Einsteins Relativit?tstheorie, sondern die Summe von Verknüpfungen.

?Im Gegensatz zu bestehenden Theorien lassen wir offen, woraus die Qubits bestehen. Entscheidend ist vielmehr, wie sie miteinander verknüpft sind. Die verschr?nkten Qubits entsprechen der gekrümmten Raumzeit in der makroskopischen Welt?, erkl?rt Renner. Für den Physiker geht es bei der Suche nach der Quantengravitation vor allem darum, die passenden Verschr?nkungsmuster der Qubits zu finden. Zur Veranschaulichung k?nnen wir uns die Raumzeit als den gespannten Stoff am Trampolin vorstellen, bei dem jede Faser eine Beziehung zwischen Qubits darstellt. Dass dieser Ansatz ernst zu nehmen ist, zeigt sich vor allem daran, dass er für theoretische Gr?ssen wie die Entropie der Strahlung schwarzer L?cher zu den gleichen Ergebnissen kommt wie andere Theorien.

Neue Experimente

Für die Experimentalphysikerin Anna Soter gibt es heute keinen Mangel an grossen Theorien. Was aber fehlt, sind Experimente, die neue Einblicke in die Gravitation kleinster Teilchen liefern. Denn weder ?It from Qubit? noch andere Theorien lassen sich heute direkt experimentell überprüfen.

In ihrer eigenen Forschung geht Soter daher einen anderen Weg. Wenn Physikerinnen und Physiker argumentieren, dass Teilchen Masse haben und deshalb die Raumzeit krümmen sollten, gehen sie davon aus, dass die tr?ge Masse der aufeinanderprallenden Teilchen ihrer schweren Masse entspricht. W?hrend die tr?ge Masse beschreibt, wie sehr sich ein Objekt einer Bewegungs?nderung widersetzt, ist die schwere Masse ein Mass für die Gravitationskraft eines Objekts. Die Annahme, dass es keinen Unterschied zwischen beiden gibt, ist ein zentraler Bestandteil der Allgemeinen Relativit?tstheorie und als ?quivalenzprinzip bekannt.

Doch in der Quantenwelt ist dies für Soter noch lange nicht erwiesen: ?W?hrend wir die tr?ge Masse von Atomen messen k?nnen, hat noch niemand ein Elementarteilchen fallen sehen, das nur aus Leptonen besteht und daher nicht von der starken Kernkraft bestimmt wird?, erkl?rt die ETH-Professorin. Das soll sich bald ?ndern. Soter will beobachten, ob ein horizontaler Strahl aus Myonium-Atomen von der Gravitation ?hnlich nach unten gezogen wird wie Wasser, das aus einem Gartenschlauch spritzt. Ist dies der Fall, g?be es ein Indiz mehr, warum man die Quantenmechanik und die Allgemeine Relativit?tstheorie vereinheitlichen sollte. ?Falls wir aber eine Anomalie finden und das Myonium-Atom nicht wie erwartet f?llt, haben wir ein grosses Problem?, sagt die Physikerin. Dies w?re eine kleine Sensation in der Welt der Teilchenphysik. Nicht zum ersten Mal würde ein Experiment den Anstoss dafür geben, unser Bild der physikalischen Welt zu überdenken.

Zu den Personen

Renato Renner ist Professor für Theoretische Physik am Departement Physik der ETH Zürich.

Anna Soter ist Assistenzprofessorin für niederenergetische Teilchenphysik am Departement Physik der ETH Zürich.

?Globe? Was die Welt zusammenh?lt

Globe 23/03 Titelblatt:

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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