Wir brauchen mehr Respekt für Andersdenkende

Stadt versus Land, Impfgegner gegen Impfbefürworter, Rechte gegen Linke – die Polarisierung scheint seit Jahren zuzunehmen. Ein Gespr?ch über gesellschaftliche Risse und den Kitt, der uns Menschen zusammenh?lt. ?

Skulptur bei der zwei Gesichter miteinander verschmelzen.
Dieses Bild hat die KI-?Software Midjourney aufgrund des Prompts ?sculpture with two faces on a marble pedestal, hyperrealistic sculptures, pastel colours? geschaffen. (Bild: Sir Mary / Midjourney)

Egal, ob man eine Zeitung aufschl?gt, eine Onlineplattform besucht oder den Fernseher anschaltet: Man hat das Gefühl, die Gesellschaft ist immer polarisierter. Stimmt diese Wahrnehmung?
Nadia Mazouz: Wir sollten zun?chst zwischen zwei Arten der Polarisierung unterscheiden: Bei der emotionalen Polarisierung spiegeln Individuen oder Gruppen die Emotionen der anderen negativ. Ich freue mich dann zum Beispiel, wenn es anderen schlecht geht. Diese Polarisierung ist durch die sozialen Medien nicht nur sichtbarer geworden – sie findet auch h?ufiger statt, so verstehe ich die Diagnose der Soziologinnen und Soziologen.

Und die zweite Form der Polarisierung?
Mazouz: Wir sprechen von inhaltlicher Polarisierung, wenn die Vielfalt von Auffassungen, Meinungen oder Werten nicht mehr auf einem Kontinuum liegt, sondern in Extremen gruppiert ist. Ob diese Form der Polarisierung zugenommen hat, ist umstritten. Manche aber gehen davon aus, dass die politische Mitte schw?cher geworden ist und die R?nder st?rker, lauter und organisierter.

Christoph Stadtfeld: Emotionale Polarisierung hat auch mit dem Paradoxon des Internets zu tun: Es sollte Menschen auf einem globalen Dorfplatz zusammenführen und den Zugang zu Informationen erleichtern. Dieser Traum hat sich nicht erfüllt. Heute gilt das Internet eher als ein Ort, an dem Desinformationen verbreitet werden und Menschen sich in Echokammern abschotten. Für mich ist emotionale Polarisierung aber kein neues Ph?nomen: Sie hat sich zwar durch die sozialen Medien und auch andere Medien in der Aufmerksamkeits?konomie verst?rkt, erfüllt aber gleichzeitig auch ein psychologisches Bedürfnis von uns Menschen.

An welches Bedürfnis denken Sie?
Stadtfeld: Wir wollen uns einer Gruppe zugeh?rig fühlen und teilen die Welt in ?die anderen? und ?wir? ein. In den letzten Jahren haben sich immer mehr spezialisierte Kleingruppen gebildet, die den politischen Mainstream vermehrt als gemeinsamen Gegner betrachten. Vor dem Zeitalter des  Internets war eine Person mit extremen oder abstrusen politischen Ideen eher dazu gezwungen, sich dem Konsens ihres direkten sozialen Umfelds anzupassen, um sich nicht vollst?ndig zu isolieren. Heute ist die Situation eine andere. Eine solche Person findet online für jede kleine Nische Gleichgesinnte und kann mit ihnen eine Gruppe bilden und ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln.

Mazouz: Genau, es gibt beide Prozesse: eine Fragmentierung in verschiedene Nischen und die Erosion mittlerer und vermittelnder Positionen zwischen den grossen politischen Polen. Unsere Dissensgesellschaft wird damit segmentierter, aber gleichzeitig weniger komplex.

Porträt einer Frau und eines Mannes
Die Philosophin und Physikerin Nadia Mazouz und der Soziologe Christoph Stadtfeld. (Bild: Désirée Good)

Das müssen Sie jetzt erkl?ren: Eigentlich sollte die Gesellschaft doch komplexer werden mit mehr Zersplitterung.
Mazouz: Individuen sind Teil verschiedener Gruppen, und diese Gruppen sind tendenziell immer mehr deckungsgleich und damit homogener. Wenn aber gewisse Lebensformen zuverl?ssig mit politischen Haltungen einhergehen, dann verarmt unsere Gesellschaft und damit der demokratische Diskurs.

Stadtfeld: Wir k?nnen von Portfolios an Identit?ten, Ideen und Lebensstilen sprechen. Als Soziologe f?llt mir auf, dass bestimmte Portfolios sich durchsetzen. Dazwischen gibt es immer weniger: Die linksliberale Person mit konservativem Familienbild ist etwa eine Kombination, die es in der Mitte so immer seltener gibt. Kurz: Lebensstile werden immer homogener und politischer.

K?nnen Sie uns ein Beispiel geben?
Stadtfeld: Eine Studie aus den USA hat etwa gezeigt, dass man ziemlich genau verorten kann, wo Menschen politisch stehen, wenn man – vereinfacht gesagt – betrachtet, ob sie ihren Kaffee schwarz im K?nnchen oder als Flat White to go trinken. Im zweiten Falle würde die Person mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit ihre Stimme den Demokraten geben.

Mazouz: Diese Lifestyle-Elemente erm?glichen die Identifikation mit der eigenen Gruppe – und befürchtet wird, dass diese Identifikation zusehends st?rker wird. Wenn die eigene Gruppe sagt: ?Den Klimawandel gibt es nicht ?, dann übernehme ich als Mitglied diese Position. Insofern haben wir es nicht nur mit einer Polarisierung, sondern auch einer Politisierung zu tun, wenn man Politisierung als einen Prozess begreift, im Zuge dessen man sich blind mit der eigenen Gruppe solidarisiert.

Scientifica 2023

Gibt es im Rahmen der zunehmenden Polarisierung auch neue Konfliktlinien?
Mazouz: Ja, die Forschung geht heute davon aus, dass es eine neue Spaltung der Gesellschaft jenseits des klassischen Links-rechts-Schemas gibt: in kosmopolitische Haltungen versus kommunitaristische oder eher nationale Haltungen.

Zerbr?selnde Mitte. St?rkere Fragmentierung. Eine Politisierung von Lebensstilen. Wie stabil ist unsere Gesellschaft denn überhaupt noch bei dieser Grüppchenbildung?
Stadtfeld: ?hnlich wie eine Gruppe braucht eine Gesellschaft Normen, aber auch Narrative, damit sie zusammengehalten wird und Menschen Teil von ihr sein wollen. In der Schweiz ist man zum Beispiel sehr stolz darauf ist, dass man gut in der Konsens- und Kompromissfindung ist. Die Suche nach Kompromissen selber ist eine Norm, aber auch wieder Teil des gemeinsamen Narrativs, das die Schweiz zusammenh?lt.

Mazouz: Eine Gesellschaft ist dann stabil, wenn sie kooperativ ist. Und das ist sie, wenn es ein minimales Verst?ndnis darüber gibt, wie wir zusammenleben wollen. Das Problem bei der Fragmentierung und emotionalen Polarisierung ist, dass sich immer mehr Menschen nicht mehr einig sind über die grundlegenden Bedingungen dieses Zusammenlebens. Dazu geh?rt etwa gegenseitiger Respekt.

Porträtfoto von Nadia Mazouz
?Wir erleben gerade, wie die Grundidee der Aufkl?rung, n?mlich sich des eigenen Verstandes zu bedienen, zur Farce wird.?
Porträtfoto von Nadia Mazouz
Nadia Mazouz

Dieses grundlegende Verst?ndnis scheint auch in der Politik bisweilen zu fehlen.
Stadtfeld: Es gibt natürlich viele Akteure, die ein Interesse an gespaltenen Gesellschaften haben – etwa Parteien an den R?ndern.

Mazouz: Genau, es sind diejenigen, die den gegenseitigen Respekt, der ohnehin schon erodiert, weiter untergraben oder dies wollen. Aber Demokratie setzt voraus, dass wir uns gegenseitig als Freie und Gleiche sehen und nicht als Feinde. Der aktuelle Zustand bereitet mir daher grosse Sorgen.

Respekt ist das eine. Aber in Zeiten von alternativen Fakten kann man sich ja nicht einmal mehr auf dieselbe Diskussionsgrundlage einigen.
Mazouz: Wir erleben gerade, wie die Grundidee der Aufkl?rung, n?mlich sich des eigenen Verstandes zu bedienen, zur Farce wird. Immer mehr Menschen informieren sich vor allem auf Plattformen, die klassische epistemische Autorit?ten wie die Wissenschaft grunds?tzlich in Frage stellen.

Porträtfoto von Christoph Stadtfeld
?Wir sollten als Gesellschaft M?glichkeiten schaffen, um über Gruppengrenzen und Milieus hinweg Beziehungen zu bilden.?
Porträtfoto von Christoph Stadtfeld
Christoph Stadtfeld

Was k?nnen wir gegen die zunehmende Polarisierung tun?
Stadtfeld: Wir sollten als Gesellschaft M?glichkeiten schaffen, um über Gruppengrenzen und Milieus hinweg Beziehungen zu bilden, weil es Beziehungen sind, aus denen dann wieder Gruppen entstehen. Ich denke hier zum Beispiel an eine Bildungs- und Wohnungspolitik, die auf Durchmischung setzt, oder an Sportvereine, die ganz unterschiedliche Menschen zusammen und ins Gespr?ch bringen. Im Kleinen kann jede Gruppe oder Institution etwas tun – wie etwa den Austausch mit anderen zu erleichtern. Ich finde es zum Beispiel wichtig, dass wir an der ETH die Bildung sozialer Netzwerke zwischen allen Studierendengruppen erm?glichen, indem etwa Seminar- oder Mentorgruppen auch einmal zuf?llig zusammengestellt werden.

Als Individuum kann ich ganz konkret ver?ndern, wie ich mit Andersdenkenden umgehe. Was raten Sie?
Stadtfeld: Ohne Berührungs?ngste und neugierig durch die Welt zu gehen. Oft merken wir erst, wenn wir ins Gespr?ch kommen, dass wir mehr mit Andersdenkenden teilen, als wir vermuten würden. Wir brauchen auch eine dickere Haut und sollten uns nicht gleich über alles emp?ren, das nicht unserer Meinung entspricht.

Mazouz: Auch eine Portion Selbstkritik würde uns guttun: Als kosmopolitisch Denkende betonen wir gerne, dass wir andere Meinungen und Diversit?t tolerieren. Doch gleichzeitig beobachte ich die Tendenz, die angeblich Intoleranten zu verachten. Damit tragen wir selbst zur emotionalen Polarisierung bei. Es sind nicht immer die anderen, die spalten. Wir haben auch einen Auftrag an uns selbst.

Zu den Personen

Nadia Mazouz ist Professorin für praktische Philosophie am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich.

Christoph Stadtfeld ist Professor für soziale Netzwerke am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der ETH Zürich.

?Globe? Was die Welt zusammenh?lt

Globe 23/03 Titelblatt:

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

DownloadGanze Ausgabe lesen (PDF, 4.8 MB)

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert