In den Schuhen der anderen

Umweltschutz mal anders: ETH-?kologen haben Strategiespiele entwickelt, um unterschiedliche Interessengruppen an einen Tisch zu bringen. Am Ende gewinnen alle.

Pastellfarbiger Blumenstrauss auf einem Sockel
Dieses Bild hat die KI-?Software Midjourney aufgrund des Prompts ?sculpture of a massive biodiversity on a pedestal, hyperrealistic sculptures, pastel colours? geschaffen. (Bild: Sir Mary / Midjourney)

Das Geb?ude CHN auf dem ETH-中国足球彩票 Zentrum ist Dreh- und Angelpunkt für eine Vielzahl von Forschenden und Studierenden, die im Innenhof lernen und Arbeiten schreiben. Im Keller des Departements für Umweltsystemwissenschaften geht es jedoch nicht weniger gesch?ftig zu und her: In einer Klimakammer bauen rund 50 Jungk?niginnen neue Hummelv?lker auf. Aufgezogen werden sie von der ?kologin Sarah Richman aus der Plant Ecology Group von Janneke Hille Ris Lambers.

Anhand der Hummeln m?chte Richman untersuchen, wie sich das Zusammenspiel zwischen Arten – in diesem Fall von Pflanzen und ihren Best?ubern – infolge des Klimawandels ver?ndert. Um die Klimaerw?rmung zu imitieren, wird sie die Hummelv?lker in unterschiedlichen H?henlagen in den Bergen ansiedeln und anschliessend ihre Fitness und ihre Ern?hrungsprofile auswerten. Erw?rmt sich n?mlich das Klima, stimmt h?ufig das Timing der blühenden Pflanzen und ihrer natürlichen Best?uber  nicht mehr überein. ?Je diverser eine Gemeinschaft ist, desto eher kann sie solche negativen Effekte abfangen?, sagt Richman. ?Das Problem ist bloss: Auch die Biodiversit?t steckt in einer Krise.?

Biodiversit?t bezeichnet die Vielfalt des Lebens auf der Ebene der ?kosysteme, der Arten und der Gene. Gemeinsam mit den unbelebten Umweltfaktoren wie Wasser, Temperatur und Licht bildet sie die Basis unserer ?kosysteme. ?Alle ?kosysteme – vom kleinsten bis zum globalen Massstab – werden von den Arten und deren Interaktionen geformt?, fasst Jaboury Ghazoul, Professor für ?kosystemmanagement, zusammen.

Menschliche Handlungen k?nnen je nach deren Massstab und H?ufigkeit einen signifikanten Einfluss auf die Dynamik der biologischen Systeme haben. Dabei ist die Resilienz von ?kosystemen jedoch erstaunlich hoch: ?Erst kürzlich haben wir herausgefunden, dass tropische Systeme – von denen man bisher dachte, sie seien besonders fragil – erstaunlich resilient gegen St?rungen sind?, erkl?rt Ghazoul. Selbst nach radikalen Abholzungen kann ein Tropenwald innerhalb von 100 bis 150 Jahren nachwachsen und Artenvielfalt sowie das Erdreich mit seinen Bodenorganismen und N?hrstoffzyklen regenerieren.

Verluste und deren Konsequenzen

Als besorgniserregend stuft die Wissenschaft jedoch insbesondere langfristige, globale Ver?nderungen wie den Klimawandel ein. ?Wir sind uns nicht sicher, inwiefern sich Arten und Gemeinschaften anpassen und erholen k?nnen?, sagt Ghazoul. Der ?kologe vermutet, dass sich teilweise neue ?kosysteme mit einem anderen Artenmix ausbilden werden. Doch absolut klar ist er sich darüber, dass wir bereits viele wichtige und interessante ?kosysteme verloren haben und die Anzahl Verluste weiter steigen wird.

?Manche Leute wird der Verlust von einigen Arten nicht kümmern?, sagt Ghazoul. ?Aber wir müssen dabei in Systemen denken.? Die Konsequenzen sind weitreichend: Der Artenverlust vermindert die Bodenqualit?t und es kommt h?ufiger zu Erosion. Dies ver?ndert ganze Flusssysteme und damit den Lebensraum von Fischarten und Wirbellosen. In den Flüssen sammelt sich Schlick an, wird ins Meer geschwemmt und lagert sich auf Korallenriffen ab, die daraufhin absterben. Der dadurch dezimierte Fischbestand beeintr?chtigt die Fischereit?tigkeit, die Lebensgrundlage vieler Küstenbewohnerinnen und -bewohner.

Doch wie gross ist unsere Bereitschaft, in den Artenschutz zu investieren, wenn wir dafür auf andere Vorteile verzichten müssen? Von der Landwirtschaft über die Infrastruktur, die unsere Lebensqualit?t verbessert, bis hin zur Energieproduktion hat jede unserer Entscheidungen einen Einfluss auf die Umwelt. Und jede und jeder hat dabei seine eigenen Vorstellungen, wie die Zukunft aussehen soll. ?Wir müssen anerkennen, dass diese individuellen, gar miteinander konkurrierenden Werte gleichermassen legitim sind?, sagt der ?kosystemmanagement-Professor. ?Nur wenn wir uns gegenseitig respektieren und die Gültigkeit alternativer Standpunkte anerkennen, k?nnen wir als Gesellschaft Kompromisse aushandeln.?

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Mit seiner Forschungsgruppe setzt Ghazoul genau hier an: Sie entwickeln wissenschaftsbasierte Strategiespiele, die als Plattform dienen, um unterschiedliche Interessengruppen an einen Tisch zu bringen. Die Herausforderung dabei ist, gemeinsame Ziele zu finden, die Biodiversit?t und Umweltschutz beinhalten. ?Es macht keinen Sinn über Artenschutz zu diskutieren, wenn sich die andere Partei nicht dafür interessiert?, erkl?rt Ghazoul. ?Stattdessen müssen wir Aspekte des Systems finden, an denen alle interessiert sind – zum Beispiel gesunde Nahrung zu produzieren.?

Im Spiel sind alle gleichwertig

Die Strategiespiele des ?kologen ?hneln in ihrem Aufbau simplen Brettspielen, bilden jedoch die Dynamik des jeweiligen komplexen sozio?konomischen Systems ab. Zentrale Entscheidungstr?ger und Interessenvertreterinnen werden dazu eingeladen, unterschiedliche Zukunftsszenarien durchzuspielen. Der Bauer und die Leiterin der lokalen Wasserversorgung, der CEO und die Politikerin sitzen sich dabei gegenüber und diskutieren gleichberechtigt, denn die Machtungleichgewichte sind im Spiel aufgehoben.

Die auf den ersten Blick ungew?hnliche Herangehensweise hat mehrere Vorteile: ?Erstens helfen uns die Akteurinnen und Akteure mit ihrem lokalen und praktischen Wissen dabei, das Modell zu überprüfen und zu verbessern?, sagt Ghazoul. Zweitens birgt es die Chance, Vertrauen zwischen den Umweltschützern, Wissenschaftlerinnen und Praktikern aufzubauen. ?Für einen erfolgreichen Artenschutz brauchen wir diese Brücke zwischen Menschen, die relevante Entscheidungen treffen?, so der ?kologe.

Im Spiel tritt die gegenseitige Abh?ngigkeit besonders klar zutage und zeigt, dass die F?rderung der Biodiversit?t auch Nachteile mit sich bringt, die abgewogen werden müssen: St?rkt beispielsweise ein Grundstücksbesitzer in Indien in seinem Wald die Biodiversit?t, um ?kotourismus zu betreiben, kann sich das negativ auf die benachbarte Kaffeefarm auswirken. Mehr Schlangen, Skorpione und Spinnen auf der benachbarten Plantage machen es schwierig oder teuer, Erntehelfer zu finden, die unter diesen Bedingungen arbeiten wollen. ?Solche unerwarteten Konsequenzen, die im Spiel auftauchen, liefern wichtige Inputs für Entscheidungen von Politik oder Management?, sagt Ghazoul.

Insbesondere erlaubt das spielerische Setting für einmal, in die Schuhe der anderen Parteien zu schlüpfen. In seinem sechsj?hrigen, vom SNF und der DEZA finanzierten Projekt zur nachhaltigen Palm?lproduktion in den Tropen arbeitete Ghazoul mit den Regierungen von Indonesien, Kolumbien und Kamerun zusammen und liess sie die Rolle der Kleinbauern einnehmen. ?Ein Minister hat uns zurückgemeldet, er habe an diesem einen Tag mehr gelernt als in seinen zehn Jahren im für Palm?l zust?ndigen Gremium?, erz?hlt der ?kologe stolz.

Doch was braucht es denn nun, wenn wir den Artenschutz verbessern m?chten? Es braucht das Wissen, wie ?kosysteme funktionieren und wie sie auf ?ussere Einflüsse reagieren. ?Um ein vollst?ndiges Bild zu erhalten, sind experimentelle Feldstudien von artenspezifischen Antworten wie jenen von Hummeln genauso essenziell wie Analysen von globalen Datens?tzen?, sagt Richman. Doch vermutlich gleichbedeutend sei es, zu verstehen, wie Menschen Entscheidungen treffen, die Biodiversit?t und Klimaemissionen beeinflussen, meint Ghazoul.

Zu den Personen

Jaboury Ghazoul ist Professor für ?kosystemmanagement am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich.

Sarah Richman ist Mitarbeiterin in der Gruppe Pflanzen?kologie am Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich.

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Globe 23/03 Titelblatt:

Dieser Text ist in der Ausgabe 23/03 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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