Mehr als Wissensvermittlung: Lehre braucht Gemeinschaft

Autorin: Bettina Bhend

Reine Wissensvermittlung funktioniert online ebenso gut wie vor Ort. Zu einer umfassenden Bildung geh?rt aber mehr: zum Beispiel die Anwendung von Wissen, die Kooperation mit anderen Studierenden oder die Pr?sentation eigener Ideen. In diesen Bereichen bleibt die Pr?senzuniversit?t unverzichtbar.

Hongyang Wang entwickelt ein Geb?ude, das niemandem geh?rt und sich selbst verwaltet. ?No1s1? heisst das Projekt, das zahlreiche digitale Technologien nutzt – aber auch viel praktische Arbeit erfordert. Darum arbeitet die Doktorandin regelm?ssig im Student Project House der ETH Zürich. Hier steht ihr, so wie allen Studierenden, eine Vielzahl an Maschinen, Materialien und Werkzeugen zur Verfügung. ?Das ist für mich sehr wichtig. Anders als beispielsweise bei einem Softwareprojekt kann ich nicht einfach virtuelle Prototypen bauen. Ich muss vor Ort sein, um Ideen umzusetzen und zu testen?, sagt sie.

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No1s1 – Dieses Haus geh?rt sich selbst. (Video: ETH Zürich)

Innovative Lehrprojekte

?Wie Hongyang Wang selber Hand anlegen, das ist ein zentraler Aspekt der Lehre?, sagt Gerd Kortemeyer, Leiter der Abteilung Lehrentwicklung und -technologie. Er ist überzeugt: ?Labore, Praktika und Hands-on-Aktivit?ten sind an einer technischen Hochschule auch im Jahr 2022 schlicht unverzichtbar. Die Student:innen müssen ein Gefühl für Werkstoffe, Messger?te, mechanische oder elektronische Komponenten entwickeln k?nnen.?

In den letzten drei Jahren waren solche Unterrichtselemente coronabedingt teilweise stark eingeschr?nkt. Trotzdem setzten die Dozierenden alles daran, praktische ?bungen zu erm?glichen, auch über r?umliche Grenzen hinweg. Ein Beispiel dafür ist das Physikpraktikum für Bachelorstudierende. Dozierende entwickelten über zehn neue Experimente, die in den eigenen vier W?nden durchgeführt werden k?nnen – ausschliesslich mit Dingen, die jeder zu Hause hat oder im n?chsten Supermarkt kaufen kann. Praktisches Lernen mit Klebeband, Pommes-Chips-Dosen, Wasserflaschen oder Alufolie: Dafür erhielt das Dozierendenteam 2022 den KITE Award für besonders innovative Lehrprojekte.

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Beim Sieger-Projekt des KITE Award 2022 liessen sich alle Experimente zu Hause durchführen und auswerten und hatten meist gleichwertige oder sogar bessere Lerneffekte wie jene im Labor. (Video: ETH Zürich / Nathalie Schmidig)

Florierende Lerngemeinschaft

Trotz dieses Engagements ist für Rektor Günther Dissertori grunds?tzlich klar: ?Die ETH ist eine Pr?senzuniversit?t.? Dafür spricht nicht nur die grosse Bedeutung des Praxisunterrichts, wie er erkl?rt: ?Die St?rke unserer Lehre liegt auch in der N?he zwischen den Studierenden und Dozierenden. Die Lehre lebt vom direkten Austausch, insbesondere auch vom Austausch der Studierenden untereinander.? Zuf?llige Begegnungen vor Ort, Gespr?che auf den G?ngen, Interaktionen nach der Vorlesung und das gemeinsame Essen in der Mensa festigen dieses Miteinander als Lerngemeinschaft.

Gerd Kortemeyer erg?nzt: ?Neben Fachwissen geht es uns auch um die Vermittlung von sozialen und pers?nlichen Kompetenzen.? Diskussionskultur, Kooperation, Teamarbeit oder Auftrittskompetenz geh?ren seit jeher zu den impliziten Bildungszielen einer Hochschule. Diesbezüglich ist die Pr?senzuniversit?t nach wie vor unerreicht. Das best?tigt Doktorandin Hongyang Wang: ?Zusammenarbeit und Workshops funktionieren vor Ort einfach besser. Man spürt und versteht einander, die Kommunikation ist effizienter, es gibt weniger Missverst?ndnisse.?

Portrait von Gerd Kortemeyer
?Im Jahr 2022 wurde rund die H?lfte der Vorlesungen aufgezeichnet, ein Viertel sogar gestreamt.?
Portrait von Gerd Kortemeyer
Gerd Kortemeyer, Leiter Abteilung Lehrentwicklung und -technologie

Vielversprechende Mischmodelle

Das Bekenntnis der ETH zur Pr?senzuniversit?t heisst nicht, dass Online-Veranstaltungen keinen Platz im Curriculum h?tten. ?Die Pandemie hat hier einen Wandel angestossen: Im Jahr 2022 wurde rund die H?lfte der Vorlesungen aufgezeichnet, ein Viertel sogar gestreamt?, weiss Gerd Kortemeyer. Die Dozierenden haben aus der anf?nglichen Not eine Tugend gemacht und sind beim Einsatz digitaler Technologien experimentierfreudiger geworden. Durchaus zu Recht: Ein Vergleich der Prüfungsresultate zeigt, dass der Online-Unterricht in Sachen reiner Wissensvermittlung ebenso gut funktioniert wie der Unterricht vor Ort.

Für die ETH heisst das: Die Zukunft liegt in Mischmodellen, die Online- und Pr?senzunterricht verbinden. ?Wir machen zum Beispiel sehr gute Erfahrungen mit Blended Learning und Flipped Classroom. Dabei kann die Wissensvermittlung online stattfinden, zum Beispiel über ein Video?, erkl?rt Gerd Kortemeyer. ?Die gemeinsame Zeit im Unterrichtsraum wird dann für diejenigen Aspekte der Lehre eingesetzt, die vor Ort am besten funktionieren: aktivierende Elemente wie Praxisaufgaben, gemeinschaftliche Probleml?sungen oder Diskussionen.?

Vier Studierende sitzen am Boden rund um ein Tablet. Auffallend die knallgrünen Lanyards der ETH Week.
Die ETH Week ist eine Lehrveranstaltung, die Kollaboration, eigenst?ndiges und kritisches Denken sowie Verantwortungsbewusstsein f?rdern will. Anhand der Design-Thinking-Methode entwickelten Studierende in interdisziplin?ren Teams w?hrend einer Woche L?sungen und Prototypen. (Bild: ETH Zürich / Alessandro Della Bella)

Neue Herausforderungen

Günther Dissertori und Gerd Kortemeyer sind sich des Potenzials neuer Lehr- und Lernformen bewusst, sehen aber auch Herausforderungen – nicht nur technischer Natur. ?Ein grosses Online-Angebot bietet zwar Flexibilit?t, kann aber auch dazu führen, dass Studierende sich zu viel zumuten – indem sie Vorlesungen parallel belegen, weil es ja Videoaufzeichnungen gibt?, so der Rektor. ?Erst vor den Prüfungen merken sie dann, dass sie sich übernommen haben.? Darum empfiehlt die ETH den Dozierenden seit diesem Jahr, von reinen Online-Veranstaltungen ohne Pr?senzelement abzusehen.

Doch auch bei Mischmodellen ist die Arbeitsbelastung ein Thema, wie Gerd Kortemeyer zu bedenken gibt: ?Früher konnte ich einfach eine Vorlesung besuchen. Heute muss ich beispielsweise erst ein einstündiges Online-Video schauen und dann an zwei Lektionen vor Ort teilnehmen. Dabei ist mein zeitlicher Aufwand viel gr?sser. Es ist also wichtig, dass auch wir die Studierenden nicht überfordern.?

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