Wo Kunst und Wissenschaft zueinander finden

Seit über 150 Jahren wird an der ETH Zürich nicht nur technisches und naturwissenschaftliches Wissen vermittelt, sondern auch Kunst: Mit der Graphischen Sammlung verfügt die Hochschule über eine international renommierte Institution für Kunst auf Papier. Doch wie kam es überhaupt dazu – und welche Bedeutung hat diese Kunstform heute noch im Zeitalter von Digitalisierung und KI?

2 Personen in der Graphischen Sammlung bestaunen die Kunst
Ein Blick in die Graphische Sammlung. (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Frank Blaser)  

Hoch über der Stadt Zürich, in einem Seitenflügel des ETH-Hauptgeb?udes, lagern ganz besondere Sch?tze: Rund 160'000 Bl?tter mit Druckgraphiken, Zeichnungen und Fotografien werden hier in einer Vielzahl unscheinbarer, schwarzer Archivschubladen aufbewahrt, gut geschützt vor Licht und anderen Umwelteinflüssen. ?Manche m?gen erstaunt sein, dass die ETH Zürich eine solch grosse Kunstsammlung besitzt?, sagt Linda Sch?dler, Leiterin der Graphischen Sammlung ETH Zürich. Doch dies hat durchaus seinen Sinn – und eine lange Geschichte.

Mit Kunst den ?offenen Geist? f?rdern

?Ursprünglich wurde die Graphische Sammlung im Jahr 1867 für die Studierenden und Forschenden der ETH Zürich eingerichtet?, erkl?rt Linda Sch?dler. Denn am Eidgen?ssischen Polytechnikum – wie die ETH Zürich damals noch hiess – legte man von Anfang an grossen Wert auf das ?studium generale?: Studierende sollten nicht nur in naturwissenschaftlichen und technischen F?chern ausgebildet werden, sondern auch in anderen Disziplinen Kenntnisse erwerben. Um einen solch ?offenen Geist? zu f?rdern, gab es an der ETH bereits seit ihrer Gründung 1855 eine Professur für Kunstgeschichte und Arch?ologie.

Allerdings: Die Menschen reisten damals noch nicht so h?ufig wie heute, und die Fotografie war noch nicht stark verbreitet. Wer demnach im 19. Jahrhundert etwas über Kunst erfahren wollte, sah sich oft Reproduktionsgraphiken an, beispielsweise Radierungen oder Kupferstiche eines Originalgem?ldes. Diese Druckgraphiken wurden in einer Auflage gedruckt – es gab sie also nicht nur als einmaliges Exemplar – und dank ihres geringen Gewichts waren sie einfacher zu transportieren als manche Originale.

Um die Welt der Kunst auch den Forschenden und Studierenden der ETH zug?nglich zu machen, entschied Johann Gottfried Kinkel, dritter Professor für Kunstgeschichte und Arch?ologie an der ETH, im Jahr 1867, dass die Hochschule ein ?Kupferstichkabinett? zu Studien- und Lehrzwecken ben?tige. Der Startschuss für die heutige Graphische Sammlung war damit gefallen.

Altmeister f?rdern Renommee

Etwa 11'000 Einzelbl?tter und 150 gebundene Stichwerke erwarb Johann Gottfried Kinkel als ersten Grundstock. Gut zwanzig Jahre sp?ter kamen rund 12'000 Druckgraphiken – darunter Werke von Altmeistern wie Albrecht Dürer, Rembrandt oder Franzisco de Goya – hinzu, welche der Zürcher Bankier Heinrich Schulthess-von Meiss der Graphischen Sammlung schenkte. Mit diesem vergr?sserten, wertvollen Bestand wurde die Graphische Sammlung über die Hochschule hinaus bekannt.

Verbindung zu Wissenschaft und ?ffentlichkeit

Heute verfügt die Graphische Sammlung über 160'000 Kunstwerke auf Papier. Nebst den Altmeistern sind auch Werke von Pablo Picasso bis Andy Warhol sowie von Künstler:innen der Gegenwart dabei. ?Nach wie vor ist unsere Sammlung eine wichtige Inspirationsquelle für die Lehre und die Forschung?, sagt Linda Sch?dler. So entstehen in Zusammenarbeit mit Forschungsgruppen schon mal neue Werke, Ausstellungen oder Veranstaltungen. ?Solche Kooperationen sind uns sehr wichtig. Denn beide Seiten profitieren dabei von der unterschiedlichen Denkart der anderen. Dies hilft, die eigene Disziplin anders wahrzunehmen und gewisse Methodiken zu hinterfragen?, umschreibt Linda Sch?dler die Relevanz der Graphischen Sammlung für die Wissenschaft.

?Wir bieten einen anderen Zugang zur ETH, der im besten Fall weitere Türe ?ffnen kann.?
Linda Sch?dler, Leiterin Graphische Sammlung ETH Zürich

Zugleich sei die Sammlung jedoch auch ein wichtiges Verbindungsglied zwischen der Hochschule und der breiten ?ffentlichkeit: ?Viele Kunstinteressierte besuchen unsere Ausstellungen und sind überrascht, dass die ETH Zürich als technische Hochschule solche Kunstsch?tze besitzt. So bieten wir einen anderen Zugang zur ETH, der im besten Fall auch weitere Türe ?ffnen kann.?

Von der Idee zur Ausstellung

Damit auch in Zukunft diese Brücke zwischen Hochschule und ?ffentlichkeit geschlagen werden kann, kümmern sich drei Kuratorinnen um das Ausstellungsprogramm. Ideen für zukünftige Ausstellungen werden laufend gesammelt – bis 2026 ist das Programm bereits definiert. Vom Zeitpunkt der ersten Ideenfindung bis zur finalen Ausstellung dauert es oft rund zwei Jahre.

Pro Jahr zeigt die Graphische Sammlung drei Ausstellungen à je drei Monaten. Eine l?ngere Ausstellungszeit würde den Kunstwerken schaden. Denn Druckgraphiken sind – wie Zeichnungen und Fotografien – ?usserst lichtempfindlich und k?nnen nicht dauerhaft pr?sentiert werden.

?Im Rausch(en) der Dinge: Fetisch in der Kunst?

Am 10. April 2024 er?ffnet die Graphische Sammlung ihre neuste Ausstellung. Zu sehen gibt es gem?ss Ausstellungsprogramm ?auff?llige Gesten und K?rperhaltungen, aber auch grandiose wie skurrile ?ber-Inszenierungen von banalen Dingen?. Vom Mittelalter über die Romantik bis in die Gegenwart werden die Spielarten der fetischistischen Mechanismen in den Künsten erkundet.

?Im Rausch(en) der Dinge: Fetisch in der Kunst?, 10.4. bis 7.7.2024, t?glich von 10 bis 17 Uhr.

Mehr über die Ausstellung erfahren

Was bringt die Zukunft?

Auch heute vergr?ssert sich die Graphische Sammlung nach wie vor – zum einen durch Schenkungen, zum anderen durch Ank?ufe. ?Wir erwerben vor allem Gegenwartskunst, um am Puls der Zeit zu bleiben?, erkl?rt Linda Sch?dler. ?Uns interessiert, wie es mit der Kunst auf Papier weitergeht. Wie wird heute gezeichnet? Welche neuen Elemente und Techniken kommen hinzu?? Dabei spielt auch die Digitalisierung eine wichtige Rolle. Seit vier Jahren werden die Best?nde der Graphischen Sammlung in einem konzentrierten Projekt digitalisiert und online zug?nglich gemacht. Dies sei eine wichtige Erg?nzung, um die Werke noch breiter verfügbar zu machen – jedoch kein Ersatz für die physische Sammlung und die direkte Auseinandersetzung mit den Originalwerken. ?Der physische Zugang zu den Werken ist nach wie vor unsere Zukunft?, ist sich Linda Sch?dler sicher. ?Gerade in der heutigen, digitalen Welt, wo viel über Bildschirme vermittelt wird, sch?tzen die Menschen die direkte Begegnung mit Kunst auf Papier.?

?KI wird die Künstlerinnen und Künstler nicht verdr?ngen.?
Linda Sch?dler

Und auch das Thema Künstliche Intelligenz (KI) beobachtet das Team der Graphischen Sammlung aktiv. ?Im Zusammenhang mit KI gibt es viele spannende Fragestellungen, wie beispielsweise nach der Authentizit?t und Urheberschaft von Kunst. Ich denke jedoch, dass die Menschen nach wie vor das Bedürfnis haben, etwas zu sehen, das von einem Menschen geschaffen wurde?, h?lt Linda Sch?dler fest. ?KI wird die Künstlerinnen und Künstler nicht verdr?ngen. Interessant zu verfolgen ist allerdings, wie Kunstschaffende selbst KI einsetzen.?

Die Graphische Sammlung ETH Zürich

Die Graphische Sammlung befindet sich im Hauptgeb?ude der ETH Zürich. W?hrend der Wechselausstellungen ist der Ausstellungsraum von Montag bis Sonntag jeweils von 10 bis 17 Uhr kostenfrei ge?ffnet (vgl. ?ffnungszeiten und Anreise). Nach Voranmeldung kann man sich einzelne Werke auch im Studienraum im Original anschauen und sich in sie vertiefen.  Eine Vielzahl an Werken ist zudem digital zug?nglich.

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