Brauchen wir eine Du-Kultur an der ETH?

Immer mehr Unternehmen und Institutionen setzen auf eine Du-Kultur. Soll die ETH nachziehen? Christine Bratrich und Robert Schikowski, Mitarbeitende der ETH Zürich, stehen für ihre Position ein.

Pro

Chritine Bratrich
Christine Bratrich, Leiterin Sustainability im Stab Pr?sident (Illustration: Kornel Stadler)

Wir brauchen Begegnungen auf Augenh?he – gerade an einer Hochschule! Sie sind das Elixier, um kreative Ideen zu entwickeln und neue Denkans?tze zu wagen. Dazu müssen wir uns von ?Du zu Du? offen und wertfrei austauschen. Wir alle. Studierende, Lehrende und Mitarbeitende. Nur so sch?pfen wir das volle Potenzial unserer Hochschule aus. Die ETH Woche berührt mich in diesem Zusammenhang immer wieder: Sie schafft eine barrierefreie Umgebung, in der Lernen und Lehren auf Augenh?he m?glich sind – ganz egal, ob Sarah Springman, Claude Nicollier oder eine Studentin ihre Ideen teilen. Eine Sie-Kultur zementiert Hierarchien und behindert innovative Prozesse. Die ETH wird kreativer, wenn wir vom Sie zum Du gelangen.

Daneben würde auch unsere Führungskultur profitieren. Menschen mit natürlicher Autorit?t überzeugen uns. Wir brauchen kein Sie, um unsere Teams erfolgreich zu führen. Unsere Mitarbeitenden und Studierenden gewinnen wir mit Kompetenz und Vertrauen. Als Vorgesetzte k?nnen wir uns im Sie leicht hinter der institutionellen Macht verstecken. Im Du sind wir verletzlicher und somit authentischer. In meinem ersten Job nach dem Studium erlebte ich einen Chef, der von niemandem mehr kritisiert wurde – selbst, wenn er offensichtliche Fehler beging. Offene und ehrliche Kritik f?llt umso schwerer, je eindrücklicher der Titel ist. Im Du sind wir für Kritik zug?nglicher – das mag schmerzlicher sein, aber wertvoller.

Last but not least: Respekt und Wertsch?tzung gebührt jeder Person. Unabh?ngig von deren Alter, Ausbildung oder Herkunft. Unsere pers?nlichen Vornamen drücken diese Wertsch?tzung wesentlich besser aus als ein Sie, das Distanz demonstriert und die Ungleichheit einer Beziehung betont. Wer, wem, wann das Du anbieten darf, ist Ausdruck einer anachronistischen Ungleichheit, die wir überwinden sollten. Gerade wenn der Forschungs- und Lehrbetrieb reibungslos verl?uft, geht oft vergessen, dass dieser Betrieb nur durch die vielen Menschen im Hintergrund m?glich ist. Menschen, die im Heizkraftwerk oder in unseren Werkst?tten arbeiten, in der Logistik oder der Informatik. Der Erfolg der ETH h?ngt von uns allen ab. Nennen wir diesen Erfolg beim Namen und zeigen unsere Wertsch?tzung. Begegnen wir uns mit unseren Vornamen und st?rken damit unser Wir-Gefühl!

Kontra

Robert Schikowski
Robert Schikowski, Mitarbeiter Grants Office im Stab Forschung (Illustration: Kornel Stadler)

?I strongly suggest that you …?: Wenn ich das w?hrend meines Postdoktorats von meinem Chef h?rte, wusste ich gleich, dass Widerworte schwierig würden. Dabei handelte es sich doch scheinbar nur um einen Vorschlag von einem Du zum andern (oder vielmehr von einem Sie zum anderen, denn das englische ?you? war ursprünglich ein h?flicher Plural). Was man an diesem Beispiel sch?n sieht: Sprache kann Dinge verschleiern. Sie kann Befehle wie Empfehlungen oder eben Vorgesetzte wie Gleichgestellte und Fremde wie Freunde aussehen lassen. Als Linguist w?re ich der Letzte, der abstritte, dass Sprache die Wirklichkeit auch formen kann – man muss nur von Fall zu Fall sehen, wie sehr. Wenn man beispielsweise glaubt, mit Sprache Hierarchien abschaffen zu k?nnen, wird man wahrscheinlich entt?uscht.

Damit will ich nicht sagen, dass Hierarchien und ?hnliche unzeitgem?sse Ideen wie F?rmlichkeit und Distanz unab?nderlich sind. Ich glaube aber, dass eine Sprachregelung in Form einer verordneten Du-Kultur nicht der richtige Ansatz ist, um sie zu ?ndern. Die ETH ist eine komplexe Organisation mit mittlerweile über 33 000 Angeh?rigen. In einem solchen Mikrokosmos ist Platz für verschiedenste soziale Beziehungen. Weisungsbefugnis und Anonymit?t sind darin ebenso eine Realit?t wie kollegiale Diskussionen und Mitsprache über Hierarchien hinweg. Wo und wie sich das Du ausbreitet, soll nicht zentral entschieden werden, sondern von vielen Einzelpersonen in ihren Netzwerken, denn jede und jeder weiss selbst am besten, ob Du das angemessene Pronomen für die jeweilige Begegnung ist.

Ich selber duze übrigens schnell, aber hier und da sieze ich lieber (Sie haben es sicher schon geahnt). Für mich ist das ein Zeichen von Ehrlichkeit und Professionalit?t, aber auch ein Schutz vor zu viel N?he. Ausserdem ist es ein gutes Mittel, um eine Person und ihre Rolle besser trennen zu k?nnen, besonders auch in unangenehmen Situationen. Kritik auszusprechen und nicht pers?nlich zu nehmen, f?llt mir in einer Sie-Beziehung leichter.

Ich verbinde mit dem Sie aber auch angenehme Erinnerungen, zum Beispiel an eine frühere Chefin, mit der es erst nach einem Jahr zum Duzis kam. Mein Verh?ltnis zu ihr war immer ausgezeichnet – aber Vertrauen und Kollegialit?t brauchen ihre Zeit, und manchmal eben auch der ?bergang zum Du.

Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins ?life?.

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