Wie Mikro- und Nanoplastik ins arktische Eis kommt

Die Umweltwissenschaftlerin Alice Pradel züchtet im Labor Eiskerne, um darin den Transport und die Anreicherung von Mikro- und Nanoplastik zu untersuchen. Damit will sie Stoffflüsse im arktischen Eis besser verstehen.

Frau begutachtet ein grosses Gefäss mit Flüssigkeit und Eis
ETH-Fellow Alice Pradel in der K?ltekammer: Hier erzeugt sie in mit Meerwasser gefüllten S?ulen Eiskerne, um den Transport von Mikro- und Nanoplastik im Eis zu untersuchen. (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

?Beat the Micro Bead? heisst eine 2012 initiierte Kampagne, mit dem Ziel, den Einsatz von Mikroplastik in Kosmetikprodukten zu reduzieren, um negative Auswirkungen auf Umwelt und Menschen einzud?mmen. Für Alice Pradel war die Kampagne ein Weckruf. ?Als junge Umweltwissenschaftlerin war ich schockiert, dass wir all diese Chemikalien in die Umwelt bringen, ohne uns dafür zu interessieren, was damit passiert?, erinnert sie sich. Etwa zur gleichen Zeit machten Bilder vom ?Great Pacific garbage patch? die Runde, vom riesigen Müllteppich inmitten des Pazifiks, der zu grossen Teilen aus Plastikabf?llen besteht und zum Sinnbild für den anthropogenen Plastikexzess wurde. Im Jahr 2020 wurden weltweit rund 400 Millionen Tonnen Plastik produziert; neun Prozent davon wurden rezykliert, 12 Prozent verbrannt – und der gesamte Rest landet auf Mülldeponien, in der Umwelt oder im Meer.

Neue Eigenschaften durch Zerkleinerung

?Mich fasziniert an den Umweltwissenschaften, dass ich die M?glichkeit habe, laufend mehr über unsere Beziehung zur Umwelt zu lernen?, sagt Pradel. ?Sich um die Erde zu sorgen, bedeutet für mich auch, sie besser zu verstehen.? In ihrem Masterstudium an der Universit?t Rennes in Nordwestfrankreich hat sie sich darauf konzentriert, wie unterschiedliche Chemikalien, zum Beispiel Pestizide, in B?den und anderen por?sen Medien angereichert werden. 2018 besuchte sie eine Vorlesung von Julien Gigault, Chemiker am franz?sischen Forschungszentrum CNRS. Er erz?hlte den Studierenden davon, wie das Plastik in der Umwelt durch biotische und abiotische Prozesse in immer kleinere Partikel zerlegt wird und dadurch das Material neue Eigenschaften annimmt. Dass die Partikel durch diese Miniaturisierung in alle ?kologischen Systeme vordringen k?nnen, hat Pradel fasziniert und schockiert.

Hände voll mit vielen verschiedenen Medikamenten
Alice Pradel pr?sentiert verschiedene Sorten von Mikroplastik. (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

Sie schrieb ihre Doktorarbeit daraufhin bei Gigault zur Frage, wie und wo sich Mikro- und Nanoplastik in por?sen Materialien anreichert. Gegen Ende stellte sie erstaunt fest, dass sich auch im arktischen Meereis mittlerweile grosse Mengen an Mikroplastik angesammelt hatten. Studien hatten dies kurz zuvor belegt. Eis ist ebenfalls hochpor?s, es gibt Stellen h?herer und geringerer Dichte, Hohlr?ume und mikroskopisch kleine Salzwasserflüsse zwischen den Eiskristallen. Dadurch findet zwischen dem Meerwasser und dem Eis ein st?ndiger Austausch statt – und dafür begann sich Pradel zunehmend zu interessieren. ?Dass sich Mikro- und Nanopartikel zwischen den Eiskristallen ablagern k?nnen, ist hochproblematisch. Denn das sind genau jene Stellen, wo Mikroalgen am besten gedeihen?, erkl?rt sie. Andere Forschende haben gezeigt, dass die Algen toxische Plastik-Zusatzstoffe aufnehmen und diese in die arktische Nahrungskette gelangen k?nnen.

2018 zeigte eine Studie, dass die kleinsten Mikroplastikpartikel am h?ufigsten im Meereis vorkommen. Mikroplastik ist definitionsgem?ss kleiner als fünf Zentimeter, Nanoplastik sogar kleiner als ein Mikrometer. Mikroplastik-Partikel, die kleiner als zehn Mikrometer sind, k?nnen die Forschenden nicht mehr quantifizieren; sie stossen an analytische Grenzen. ?Wir schliessen daraus, dass wir den gr?ssten Teil des Plastiks im Meereseis weder sehen noch genau messen k?nnen?, erkl?rt Pradel.

Postdoc für bessere Analytik

W?hrend ihrer Doktorarbeit hat die Forscherin ein Laborverfahren entwickelt, um Meereis im Labor wachsen zu lassen. Seit April 2022 züchtet Pradel ihre Eiskerne im Rahmen eines ETH Postdoctoral Fellowships am Departement für Umweltnaturwissenschaften der ETH Zürich. Dafür kühlt sie Meerwasser in einer Glass?ule mit einem Temperaturgradienten, der von 1 °C (unteres Ende) bis -5 °C Grad (oberes Ende) reicht. Nach 19 Stunden entsteht am oberen Ende ein rund zehn Zentimeter dicker Eiskern. Werden dem Meerwasser zu Beginn Mikro- und Nanoplastikpartikel beigemischt, kann Pradel nachvollziehen, wie die Partikel vom Wasser ins Eis gelangen und dort eingelagert werden.

Heute forscht Pradel in der Gruppe von Professorin Denise Mitrano, die sie an einer Konferenz kennengelernt hatte. Mitranos Gruppe befasst sich mit anthropogenen Partikeln und deren Toxizit?t und Auswirkungen auf die Umwelt. Sie hat unter anderem Analysemethoden entwickelt, mit denen sie Mikro- und Nanoplastik viel genauer messen kann. Das erg?nzte Pradels Forschung optimal. Ein zentrales Problem bei der Quantifizierung von Mikro- und Nanoplastik besteht darin, den Kohlenstoff von natürlichen Materialien, wie Algen, von demjenigen im Plastik zu unterscheiden. Die Forscherinnen k?nnen dieses Problem umgehen, indem sie die Kunststoffpartikel mit anorganischen Tracern versetzen. Als Tracer nutzen sie Spurenelemente, die als Stellvertreter für die Kunststoffe dienen, und es erm?glichen, mit Standardmethoden der Umweltanalytik, darunter die Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma, die Kunststoffpartikel im Eis effektiv zu messen.

Erste Arktisexpedition

Pradel kooperiert für ihre Analysen auch mit Forschenden der Eidgen?ssischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Am WSL-Labor in Davos nutzt sie Eis-Tomografen, um ihre Eiskerne bei -15 °C zu analysieren. Die dabei entstehenden Bilder erlauben Aussagen über die Porosit?t und Struktur des Eises. ?Das gibt uns wichtige Hinweise darauf, wo sich Mikro- und Nanoplastikpartikel anreichern?, so Pradel. Die laufenden Experimente zeigen, dass Nanoplastikpartikel ?hnlich durchs Eis transportiert werden wie im Meerwasser gel?ste Salze. Beim Mikroplastik hingegen h?ngt die Anreicherung im Meereis st?rker von der Partikeldichte ab.

Eiskern, der von einer Frau in die Kamera gehalten wird.
Wo im Eis sich Mikro- und Nanoplastik anreichern, untersucht Alice Pradel im Labor anhand solcher Eiskerne. (Bild: Michel Büchel / ETH Zürich)

Pradel ist überzeugt, dass ihre Experimente auch in anderen Forschungsgebieten neue M?glichkeiten er?ffnen: ?Durch die globale Erw?rmung wird das gesamte arktische Meereis viel dynamischer. Es wird dünner, Schmelzprozesse laufen schneller ab und die Verteilung von Salzen und Partikeln im Eis beschleunigt sich.? Mit ihren Experimenten k?nnen solche Entwicklungen im Labor simuliert werden, ohne dass Forschende dafür in die Arktis fliegen müssen. ?Das ist auch in Hinblick auf eine klimaschonende Umweltforschung sinnvoll.? Ganz ohne Expeditionen wird aber auch ihre Forschung nicht auskommen. N?chsten Winter wird Alice Pradel zum ersten Mal zum arktischen Ozean reisen, um den dortigen Plastik-Fussabdruck der Menschheit im Eis m?glichst genau zu messen.

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