Baustoffe: Ist Netto-Null genügend nachhaltig?

Ueli Angst

Um nachhaltiger zu werden ben?tigt die Bauindustrie endlich zuverl?ssige Vorhersagen der Lebensdauer von Bauwerken, sagt Ueli Angst. Er pl?diert für einen Paradigmenwechsel bei Langzeitprognosen von Stahlbeton.

Die Bauindustrie ist im Umbruch. Digitalisierung, Dekarbonisierung und robotikgestützte Fabrikation sind Trends, welche Forschung und Praxis nachhaltig pr?gen. Weltweit und in der Schweiz1 werden neue Werkstoffe und Bauverfahren entwickelt, um Ressourcen zu schonen, Emissionen zu reduzieren und Bauabl?ufe zu automatisieren.

Eine besondere Herausforderung bei Ingenieurbauwerken liegt in der extrem langen Lebensdauer. Ingenieure und Ingenieurinnen müssen sicherstellen, dass Brücken, Staud?mme und Tunnel über Zeithorizonte in der Gr?ssenordnung eines Jahrhunderts dauerhaft bleiben. Das erschwert es, frühzeitig aus Fehlern zu lernen. Erkenntnisse über die tats?chliche Performance eines Werkstoffs oder einer neuen Bauweise liegen oft erst Jahrzehnte nach dem Bau vor.

Deshalb sind wir auf zuverl?ssige Langzeitprognosen angewiesen. Ansonsten riskieren wir, dass die heute und künftig erstellten Bauwerke vorzeitig unerwünschten Alterungserscheinungen zum Opfer fallen. Das Problem: Prognosemodelle für Ingenieurbauwerke stecken noch in den Kinderschuhen.

Der verwitterte Unterbau einer stahlbewehrten Betonbrücke
Sie kommt schleichend und bleibt oft lange unbemerkt, bis es zu sp?t ist: Korrosion. Im Bild der verwitterte Unterbau einer stahlbewehrten Betonbrücke. (Bild: Wirestock / Adobe Stock)  

Korrosion von Stahl in Beton

Ein bedeutendes Beispiel ist die Betonindustrie. Beton ist das am meisten hergestellte Material und verursacht rund drei Mal so viel CO2 wie die Luftfahrt. Die Betonbranche hat sich das Ziel gesetzt, ihren CO2-Ausstoss bis 2050 auf netto null zu senken.2 Mit Hochdruck wird nach klimaschonenden Alternativen gesucht, etwa emissionsarmen Zementen oder Recycling von Abbruchmaterial.3 Doch welche dieser neuen Baustoffe sind auf lange Sicht wirklich die nachhaltigsten?

Die Achillesferse von Stahlbetonbauwerken ist die Korrosion des Bewehrungsstahls. Oft wird Korrosion durch Tausalze verursacht, die durch den por?sen Beton eindringen und die Bewehrung angreifen: Der Stahl rostet, der Beton br?ckelt. Korrosion ist der h?ufigste Sch?digungsmechanismus im Ingenieurbau und verursacht enorme Kosten – in der Schweiz rund 1000 Franken pro Minute allein in der Strasseninfrastruktur.4 Vorhersagen zu Zustand und Sicherheit von Bauwerken sind daher von zentraler Bedeutung. Unglücklicherweise sind die heute verfügbaren Prognosemodelle nur begrenzt in der Lage, die Korrosion von Stahl in Beton zuverl?ssig vorherzusagen.

Falscher Fokus verhindert Fortschritt

In einer kürzlich publizierten Perspective5 habe ich zusammen mit Forschenden aus Nordamerika und Europa die historische Entwicklung der wissenschaftlichen Vorhersage von Korrosionssch?den kritisch durchleuchtet. Wir stellen fest, dass alle bestehenden Prognosemodelle auf einem einzigen theoretischen Konzept basieren, das die Lebensdauer von Stahlbeton als zweistufigen Prozess vereinfacht: In der ersten Phase ver?ndert sich das Milieu im Beton; in der zweiten Phase korrodiert der Bewehrungsstahl.

Dieses Konzept dominiert die Forschung seit Jahrzehnten, ohne dass die Vorhersagen dabei wesentlich genauer werden. Unsere Analyse zeigt, dass die Dominanz dieses einen Konzepts wie ein Flaschenhals wirkt und die Entwicklung von neuen Prognoseans?tzen in fataler Weise blockiert.

?Trotz aller Begeisterung für Netto-Null sollten wir den Weitblick über 2050 hinaus nicht aus den Augen verlieren. Was wir heute verbauen, muss auch für die n?chsten Generationen dauerhaft, sicher und nachhaltig sein.?
Ueli Angst

So fokussieren heutige Prognosemodelle auf die erste Phase, in welcher Prozesse ablaufen, bevor es überhaupt zur Bewehrungskorrosion kommt. Dazu stützen sich diese Modelle weitgehend auf empirische Erfahrungen mit früheren Baustoffen und haben gerade für neue Werkstoffe eine sehr beschr?nkte Aussagekraft. Hinzu kommt, dass auch die heutigen Regelwerke und Prüfmethoden auf dem traditionellen Paradigma fussen und nur beschr?nkt auf neue Baustoffe anwendbar sind. Schlimmer noch: Oft werden moderne, emissionsarme Baustoffe mit diesen Regelwerken für den Praxiseinsatz benachteiligt, was ?usserst bedauerlich ist.

Forschung und Praxis müssen umdenken

Deshalb bin ich überzeugt, dass bei der Korrosionsprognose ein Paradigmenwechsel notwendig ist. Wissenschaft und Ingenieurpraxis sollten sich vom ?Zwei-Phasen-Konzept? l?sen und den Fokus stattdessen auf die Korrosion selbst legen. Wir brauchen wissenschaftlich fundierte Modelle, welche die tats?chlichen Korrosionssch?den und deren Auswirkungen auf das Tragverhalten eines Bauwerks zuverl?ssig vorhersagen, und das sowohl für alte als auch für neue Baustoffe.

Werkzeug für wegweisende Weitsicht

Der Gewinn besserer Vorhersagemodelle w?re gross. Sie würden eine proaktivere Instandhaltung unserer zusehends alternden Infrastruktur erm?glichen, indem sie den richtigen Zeitpunkt für die Instandsetzung bestimmen – nicht zu sp?t und nicht zu früh. Die Infrastruktur zu erhalten ist eine der grossen Herausforderungen aller industrialisierten L?nder. Diese Mammutaufgabe wird ohne Fortschritte in Diagnostik und Prognose kaum ohne Abstriche bei der Sicherheit oder der Verfügbarkeit der Bauwerke zu bew?ltigen sein.6

Pr?zise Korrosionsprognosen sind aber auch der Schlüssel zu mehr Nachhaltigkeit im Ingenieurbau. Schliesslich z?hlt nicht nur der ?kologische Fussabdruck bei der Geburt eines Bauwerks, sondern jener über den gesamten Lebenszyklus. Lebenszyklusanalysen sind jedoch schwierig, wenn man die Lebensdauer nicht kennt.

Anstrengungen, die Bauindustrie zeitnah zu dekarbonisieren, sind ?usserst begrüssenswert. Trotz aller Begeisterung für Netto-Null sollten wir den Weitblick über 2050 hinaus aber nicht aus den Augen verlieren. Was wir heute verbauen, muss auch für die n?chsten Generationen sicher und dauerhaft sein. Nur mit Prognosemodellen k?nnen wir heute die richtigen Entscheidungen für morgen treffen und aus der Palette an vielversprechenden Baustoffen und Verfahren die wahrhaftig nachhaltigen ausw?hlen.

Referenzen

1 Die Schweiz spielt beim Wandel des Bauwesens eine wichtige Rolle, etwa durch den externe SeiteNationalen Forschungsschwerpunkt Digitale Fabrikation.

2 Global Cement and Concrete Assoziation: externe SeiteRoadmap for Net Zero Concrete

3 Beispiele sind das ETH-Spin-off externe SeiteOxara, das externe SeiteLC3-Projekt der EPFL, oder das ETH-Spin-off externe SeiteNeustark. Siehe auch diesen Beitrag im NZZ Magazin (01.05.2022): externe SeiteHat einen verheerenden Klima- und Fussabdruck: Beton

4 Angst U, Yilmaz D (2020): Korrosionsbedingte Kosten an Ingenieurbauwerken im Schweizer Strassennetz. doi: externe Seite10.1002/best.202000004

5 Angst U et all. externe SeiteBeyond the chloride threshold concept for predicting corrosion of steel in concrete. Applied Physics Review (2022). doi: externe Seite10.1063/5.0076320

6 Bereits heute sehen sich führende Industrienationen mit der fortschreitenden Alterung der Infrastruktur konfrontiert. Ein eindrückliches Beispiel liefert der Brückennotstand in Deutschland: siehe NZZ (09.03.2022) externe SeiteDie K?nigin der Autobahnen hat einen Herzinfarkt: Wie die Sperrung der Rahmedetalbrücke eine ganze Region ins Chaos stürzt

Newsletter-Anmeldung

Keinen Blogpost verpassen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert