Eine Holzkuppel nur aus Abfall

Catherine De Wolf ist überzeugt, dass die Digitalisierung den Weg hin zu mehr Kreislaufwirtschaft im Bausektor ebnen kann. Wie das gehen soll, zeigt die Assistenzprofessorin mit ihrer Forschungsgruppe in einem praktischen Projekt.

Zwei Frauen mit Schutzmasken halten Holzteile der Kuppel in die Höhe
Das Material für diesen Kuppelbau besteht ausschliesslich aus Altbauteilen. (Alle Bilder: Daniel Winkler)

Auf den ersten Blick k?nnte man meinen, hier finde ein Einführungskurs für Holzarbeit statt: In der Schreinerei auf dem 中国足球彩票 H?nggerberg hat sich an diesem Januarmorgen eine sechsk?pfige Truppe um die Bands?gemaschine versammelt. Es gilt, massive Holzbalken in dünnere Leisten zu schneiden. Nach kurzer Instruktion legen die einen gleich los. Mit geübten Griffen schieben sie die Balken vors S?geblatt. Andere z?gern noch und fragen nach, ob sie die H?nde am richtigen Ort halten.

Für einige Mitglieder der Forschungsgruppe von Catherine De Wolf, Assistenzprofessorin am Departement Bau, Umwelt und Geomatik der ETH Zürich, sind die Schreinerarbeiten tats?chlich neu. Der Crashkurs ist allerdings vor allem Mittel zum Zweck; das Ziel der Forschungsgruppe des Circular Engineering for Architecture (CEA) lab ist ein anderes: Sie wollen in den n?chsten vier Wochen ein Geb?ude einzig aus Bauabf?llen erschaffen. Eine halbrunde Kuppel soll es werden. Das Grundgerüst besteht aus den Holzleisten, die sie gerade zuschneiden. ?Es macht Spass, gemeinsam zu werken?, sagt Doktorandin Deepika Raghu. Im Architekturstudium hatte sie nie die Gelegenheit, ein Bauwerk in so grossem Stil zu konstruieren.

Das Projekt startete im vergangenen Oktober in einem Autolagerhaus in Genf. Kurz vor dessen Abriss durften die ETH-Forschenden alle für sie brauchbaren Altbauteile aus dem Geb?ude bergen. Unter Anleitung von Abbruchspezialisten zerlegten De Wolf und ihre drei Doktorierenden einen der Etagenb?den in seine Einzelteile. Ihre Ausbeute – Spanplatten, Holzbalken, Stahltr?ger sowie einige Kunststoffrohre – transportierten sie mit einem Mini-Van nach Zürich.

Drei junge Männer verarbeiten Holzbalken in einer Werkstatt
Die Holzbalken müssen von Fremdk?rpern ges?ubert und in die richtige Form zugeschnitten werden.

Motivation Nachhaltigkeit

Wie bereits beim Abriss packt Assistenzprofessorin De Wolf auch bei den Schreinerarbeiten mit an. Gerade f?hrt sie mit einem Metalldetektor einen Holzbalken entlang, um N?gel und andere Fremdk?rper aufzuspüren und vor dem S?gen zu entfernen. Die Wiederverwendung von Bauteilen nach den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft ist das Kernthema, mit dem sich die 32-j?hrige Belgierin an der ETH besch?ftigt. Den Entschluss, sich für nachhaltiges Bauen einzusetzen, fasste sie schon viel früher, w?hrend des Studiums in Architektur und Bauingenieurwesen. In einer der ersten Vorlesungen verkündete der Dozent, dass der Bausektor der weltweit gr?sste Verursacher unserer Treibhausgasemissionen sei, erinnert sich De Wolf. Als naturverbundener Mensch habe sie diese Tatsache zun?chst schockiert. ?Aber dann habe ich mir gedacht, dass ich da vieles bewirken kann.?

?Wer die Arbeitsschritte von A bis Z selbst durchführt, findet die besten L?sungen und merkt gleichzeitig, wo die Herausforderungen liegen.?
Catherine De Wolf

Heute, mehr als zehn Jahre sp?ter, ist De Wolf überzeugt, dass der Weg zu mehr Nachhaltigkeit im Bausektor über digitale Werkzeuge und Technologien führt. Wo und wie die Digitalisierung einen Mehrwert bringt, soll das Kuppel-Projekt zeigen.

De Wolf will, dass alle Gruppenmitglieder einmal einen ganzen Wiederverwendungszyklus durchspielen – von den Abbauarbeiten über das Design eines neuen Geb?udes bis hin zu dessen Bau. ?Wer die Arbeitsschritte von A bis Z selbst durchführt, findet die besten L?sungen und merkt gleichzeitig, wo die Herausforderungen liegen?, ist die Assistenzprofessorin überzeugt.

Holzbalken vermisst

Matthew Gordon und Catherine De Wolf studieren den digitalen Konstruktionsplan
Matthew Gordon und Catherine De Wolf studieren den digitalen Konstruktionsplan.

?Haben wir nun genug Holzbalken?? Im hinteren Teil der Schreinerei studiert De Wolf mit dem Doktoranden Matthew Gordon den Konstruktionsplan. Die Form der geod?tischen Kuppel ist nicht zuf?llig gew?hlt. Mit einer Grundstruktur aus lauter Dreiecken geh?ren Kuppeln zu den raum- und energieeffizientesten Bauwerken überhaupt und sind gleichzeitig extrem stabil. Das Spezielle der Holzkuppel an der ETH: Die unterschiedlich langen Streben der Dreiecke sind so dimensioniert, dass sie den Vorrat an wiederverwendetem Material m?glichst effizient nutzen.

Gordon, der ein Studium in digitaler Fabrikation absolvierte, hat dazu einen Algorithmus programmiert, der anhand des Holzvorrats selbstst?ndig die optimale Geometrie und Dimensionen der Kuppel berechnet. ?Ziel war, das Computerprogramm so zu konzipieren, dass es nicht die gr?ssten Balken in kleine Stücke verschneidet und m?glichst wenig Reste übrigbleiben?, erkl?rt er. Gerade prüft der Doktorand nochmals, ob die im Computer hinterlegten Daten zu den Holzbalken mit der Realit?t übereinstimmen.

Bei den Vorbereitungsarbeiten hatte er n?mlich bemerkt, dass einige Balken fehlen. Diese ?waren aber in der Konstruktion fest eingeplant. So musste Gordon die Flexibilit?t seines Computerprogramms unter Beweis stellen. Noch am selben Morgen hat er die Berechnungen neu durchgeführt. W?hrend der Rest der Gruppe Balken um Balken zers?gt, beschriftet der Chefkonstrukteur die neuen Bauteile mit der entsprechenden Nummer auf dem Plan. Bis jetzt scheint alles zu stimmen – Feuerprobe bestanden.

Second-Hand-Bauteile vermitteln

?Diese Episode zeigt eine der gr?ssten Herausforderungen bei der Arbeit mit gebrauchten Bauteilen?, sagt De Wolf scherzhaft. Wegen Platzmangel lagerten die Holzbalken draussen vor den Werkst?tten. Wahrscheinlich hat sie jemand f?lschlicherweise entsorgt. Im Baugewerbe existieren ?hnliche Probleme, erkl?rt sie. Zwar gibt es immer mehr Unternehmen, die Handel mit Second-Hand-Bauteilen betreiben. Die Bauteile zu beschaffen, ist jedoch aufw?ndig und zeitintensiv, der Platz für die Zwischenlagerung ist begrenzt. ?Idealerweise würden die Unternehmen frühestm?glich über einen Abriss oder Rückbau informiert, so dass sie gleich mit der Suche nach Abnehmern für die Materialien beginnen k?nnen?, so De Wolf. In der Realit?t passiere dies jedoch oftmals kurzfristig.

?Gerade in Zeiten der Pandemie, in der Unterbrüche in globalen Lieferketten unz?hlige Bauprojekte verz?gern, werden die Vorteile der Kreislaufwirtschaft umso mehr spürbar.?
Brandon Byers

Wie w?re es also, wenn auf einer digitalen Plattform s?mtliche Informationen zu den Bauteilen in bestehenden Geb?uden erfasst würden? So k?nnten Architektinnen und Architekten herausfinden, wann welche Materialien aus Abrissobjekten verfügbar sind, und diese in Neubauten einplanen. ?Gerade in Zeiten der Pandemie, in der Unterbrüche in globalen Lieferketten unz?hlige Bauprojekte verz?gern, werden die Vorteile der Kreislaufwirtschaft umso mehr spürbar?, erkl?rt Doktorand Brandon Byers.

Innerhalb des Kuppelprojekts hat er den Prototyp einer Onlineplattform für Bauteile erstellt. Am Beispiel der Holzelemente zeigt der studierte Bauingenieur, wie es gelingt, Informationen über mehrere Geb?udezyklen hinweg zu speichern – und bei Bedarf zu aktualisieren. Angaben wie das Installationsdatum, die Dimensionen und die Qualit?t der Bauteile hat der Doktorand in einer Tabelle für jeden Lebensabschnitt des Holzes aufgelistet und aktualisiert.

QR-Code für jedes Bauteil

Vorteile dieses digitalen Materialpasses sieht Byers auch abseits der praktischen Aspekte im Bau. ?Wenn die Informationen zu verbauten Bauteilen frei zug?nglich sind, erm?glicht dies gleichzeitig, mehr über die Geschichte eines Geb?udes zu erfahren.? Der ETH-Doktorand hat daher die Bauteile jeweils gut sichtbar mit einem QR-Code gekennzeichnet, der direkt auf den entsprechenden Materialpass im Internet verlinkt.

Holzbalken mit QR-Code
Jedes Bauteil wird mit einem QR-Code versehen und in einer Datenbank erfasst.

Mit einem Lasercutter graviert Byers die letzten QR-Codes ins Holz. In der Bauhalle beginnen unterdessen die Aufbauarbeiten. Zu zweit schrauben die Forschenden die Holzleisten an den Enden zusammen. Als Gelenke dienen ringf?rmige Scheiben, die sie aus Plastikrohren zugeschnitten haben. Auch diese stammen aus dem Geb?ude in Genf; es waren einmal Wasserrohre. Knapp zwei Stunden sp?ter steht das unterste Stockwerk an Dreiecken. Nach drei Tagen ist die Kuppel fertig montiert – zumindest fast.

Einmal mehr zeigt sich, dass bei der Arbeit mit gebrauchten Bauteilen, zu denen kaum Informationen verfügbar sind, nicht alles planbar ist: Die Holzleisten setzen die Plastikringe so fest unter Spannung, dass sie sich verziehen. Dank digitaler Fabrikation findet sich auch für dieses Problem eine L?sung. Mit einer computergesteuerten Fr?smaschine schneiden die Forschenden runde Scheiben aus den geborgenen Spanplatten heraus, die pr?zise in die Plastikringe passen. ?Die Kuppel ist dadurch nicht nur stabiler, sondern sie gewinnt auch noch an ?sthetik?, sagt Raghu, die bei diesem Projektteil den Lead übernommen hat.

Sommerkurs für Studierende

?Es macht mich schon stolz, was für ein sch?nes Bauwerk meine Forschungsgruppe in so kurzer Zeit errichtet hat?, sagt De Wolf an der Vernissage im kleinen Kreis. Noch gibt es in der Privatwirtschaft wenige Geb?ude, die vollkommen nach den Ans?tzen der Kreislaufwirtschaft erbaut sind. ?Damit so ein Projekt erfolgreich durchgeführt werden kann, müssen alle Akteure am gleichen Strang ziehen?, so die Assistenzprofessorin.

Zwei Männer bauen das Kuppelgerüst zusammen
Auch die Verbindungsteile für die Holzbalken bestehen aus Altmaterial. Sie wurden aus alten Plastikrohren gefertigt.

Indem sie Architektinnen, Ingenieure und Informatikerinnen zusammenbringt, versucht De Wolf, zumindest in ihrer Forschungsgruppe die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Fast noch wichtiger sei jedoch die Kombination aus Umweltbewusstsein und digitaler Affinit?t, fügt sie hinzu. Die sei nicht so h?ufig zu finden. ?Auf der einen Seite stehen grüne Aktivistinnen wie Greta Thunberg und dann gibt es Tech-Geeks wie Elon Musk?, so ?De Wolf. Sie suche hingegen gezielt nach Digitalaffinen, die ihr Know-how in den Dienst der Umwelt stellen.

Einen wichtigen Teil ihrer Arbeit sieht die Assistenzprofessorin darin, ihr Forschungsgebiet bekannter zu machen. Im Rahmen der Summer School bietet sie dieses Jahr einen Kurs an, wo sie mit Studierenden aus verschiedenen 中国足球彩票n eine weitere Kuppel aus wiederverwendeten Bauteilen baut. Als Anschauungsobjekt soll diese Kuppel den Sommer über auf dem 中国足球彩票 H?nggerberg stehen bleiben. Eine Ausstellung zum Thema ?Kreislaufwirtschaft im Bau? sowie ein paar kleinere Events sind geplant.

Video zur Reportage

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Video: ETH Zürich

?Globe? (Un)bekannte Risiken

Globe 22/01 Cover: Mikadostäbchen in Plastikmüll

Dieser Text ist in der Ausgabe 22/01 des ETH-????Magazins Globe erschienen.

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