Stumme Zeugen

Vier verschlossene T¨¹ren halten Tageslicht und W?rme von der Entomologischen Sammlung der ETH Z¨¹rich fern. Die k¨¹hle und trockene Luft mag f¨¹r die zwei Millionen Insekten, die hier in K?sten lagern, optimal sein, gem¨¹tlich ist das nicht. Im Gang auf einem Rollwagen steht eine unscheinbare kleine braune Schachtel, gef¨¹llt mit Fruchtfliegen. Nach ihrer R¨¹ckkehr aus Tschechien haben sie eben vier Wochen bei minus zwanzig Grad Celsius in Quarant?ne verbracht. Das m¨¹ssen alle Tiere, die von einer Reise wiederkehren. Auf keinen Fall sollen Sch?dlinge, wie etwa der gef¨¹rchtete Museumsk?fer, eingeschleppt werden. Bei aller Leidenschaft: Jedes Insekt ist hier eben doch nicht willkommen.

Es ist keine Seltenheit, dass der Leiter der Sammlung, Michael Greeff, Exemplare f¨¹r Studienzwecke rund um die Welt schickt. Besagte Schachtel aus Tschechien hat jedoch ihre Besonderheit: Der Wissenschaftler hat sich mit der R¨¹cksendung trotz vielfacher Mahnschreiben nicht weniger als 27 Jahre Zeit gelassen. Greeff meint lapidar: ?Die Tiere sind jetzt zwar mittlerweile etwas angeschimmelt, aber immerhin einwandfrei bestimmt.?

Die Entomologische Sammlung der ETH Z¨¹rich geh?rt heute zu den wichtigen Insektensammlungen Mitteleuropas, insbesondere f¨¹r die Fauna der Schweiz. Zu verdanken hat sie die Hochschule einem Mann, der die Leidenschaft seines Vaters so gar nicht teilen konnte. Alfred Escher erbte die Insektensammlung von seinem Vater Heinrich nach dessen Tod im Jahr 1853: 66?000 Exemplare, 22?000 Arten. Mit der Schenkung von Alfred Escher gelangte nicht nur eine bedeutende Insektensammlung an die ETH Z¨¹rich, sondern auch ein dickes Buch. ?In diesem Buch hat Heinrich Escher eine Art Buchhaltung ¨¹ber seinen Insektenbestand gef¨¹hrt. Minuti?s ist notiert, wann er mit wem welche Insekten getauscht hat?, sagt Greeff und klappt das Buch vorsichtig wieder zu. Die vergilbten Seiten sind br¨¹chig. Das Buch droht zu zerfallen.

G?ste willkommen?

Wenn nicht gerade eine Pandemie die Welt in Atem h?lt, besuchen t?glich G?ste die einzigartige Sammlung der ETH. Es sind Liebhaber, Forscherinnen oder Studierende. Heute sind Martin C. Fischer und Gabriel Ulrich hier. Sie sind Mitarbeiter der Professur f¨¹r ?kologische Pflanzengenetik von Alex Widmer. Die ETH-Wissenschaftler interessieren sich f¨¹r den Baldrian-Scheckenfalter (Melitaea diamina). Von dieser Art lagern mehr als 300 Exemplare in den K?sten. Die beiden Forscher schieben die Regale auf und ziehen K?sten heraus. Die orangebraunen Schmetterlinge sind in Reih und Glied aufgesteckt. Der Baldrian-Scheckenfalter ist eine von f¨¹nf Arten, die in der ?Pilotstudie f¨¹r ein Monitoring der genetischen Vielfalt der Schweiz? untersucht werden. Auch Kreuzkr?te, Goldammer, Scheiden-Wollgras und Kart?usernelke stehen im Fokus.

Die ETH Z¨¹rich f¨¹hrt diese Studie im Auftrag des Bundesamts f¨¹r Umwelt (Bafu) durch und wird von der Forschungsanstalt f¨¹r Wald, Schnee und Landschaft (WSL) unterst¨¹tzt. Die genetische Vielfalt ist nebst der Lebensraum- und Artenvielfalt eine der drei Komponenten der Biodiversit?t. Der Umweltwissenschaftler Martin Fischer leitet die Studie: ?Unser Hauptinteresse ist es, zu verstehen und zu dokumentieren, wie sich die genetische Vielfalt innerhalb von Arten im Lauf der Zeit ver?ndert, und wenn m?glich Aussagen ¨¹ber ihre zuk¨¹nftige Anpassungsf?higkeit an eine sich ver?ndernde Umwelt zu machen.? Die Lebensr?ume ver?ndern sich haupts?chlich wegen deren Fragmentierung und wegen des Klimawandels. Ist die genetische Vielfalt gross, haben die Tiere und Pflanzen die M?glichkeit, sich anzupassen. Die Forschenden fangen nun an, f¨¹r jede der f¨¹nf Arten an 30 Standorten in der ganzen Schweiz zehn Proben zu sammeln. Im Labor werden die Wissenschaftler anschliessend das ganze Genom von jedem Individuum analysieren. ?Das ergibt eine?riesige Datenmenge, die wir aber dank der guten Infrastruktur an der ETH bew?ltigen k?nnen?, freut sich Fischer.

Neues Interesse?

In den Anf?ngen der Sammlung konnte niemand ahnen, dass sie dereinst f¨¹r genetische Analysen genutzt werden w¨¹rde. In die Gr¨¹ndungszeit der Sammlung fallen zwar die ber¨¹hmten Vererbungsexperimente mit Erbsen des Augustinerm?nchs Gregor Mendel. Die DNA ist aber ein noch unbekanntes Molek¨¹l. Zu Beginn beantwortete die Sammlung vor allem die Frage, welche Art wo vorkommt. Zu Zeiten des Ersten Weltkriegs stand mit den Hungersn?ten die Sch?dlingsbek?mpfung im Fokus. Auch ETH-Entomologen waren an der Entwicklung von Pestiziden beteiligt. Ab den 1950er Jahren interessierten vor allem Fragen zur biologischen Sch?dlingsbek?mpfung sowie zur Systematik der Insekten.

Die Typensammlung bildet das Herzst¨¹ck der Sammlung. ?ber die Jahrzehnte ist ihre Anzahl auf ¨¹ber 5000 St¨¹ck angewachsen. Ein Typus ist das Exemplar, anhand dessen eine Art das erste Mal beschrieben wurde. ?Ein Typus ist sozusagen der Urmeter f¨¹r uns Entomologen?, sagt Greeff. ?Im Zweifelsfall greift man immer auf Typen zur¨¹ck und ¨¹berpr¨¹ft an den physischen Exemplaren die fraglichen Merkmale. Die Typen garantieren somit, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen weltweit ¨¹ber eine einheitliche Terminologie zur Beschreibung der Biodiversit?t verf¨¹gen.?

Diese Originalobjekte sind zweifelsohne unersetzbar. Aber auch die restliche Sammlung stellt eine wichtige Grundlage f¨¹r die Interpretation unserer Umwelt dar. Aktuell wird die Sammlung daher mit Unterst¨¹tzung des Bundes schrittweise modernisiert und in einer Datenbank erfasst.

Auch stellt er sich die Frage: ?Wird man in 100 oder 200 Jahren sagen, dass wir heute die richtigen Priorit?ten setzten??

Greeff besch?ftigt noch etwas anderes ¨C die Frage der Verantwortung. Weltweit sind erst etwa 20 Prozent aller Insektenarten bekannt. Vor allem in den Tropen leben sch?tzungsweise noch vier Millionen unentdeckter Arten, von denen vermutlich viele aussterben, bevor sie jemals erforscht werden. ?Sollten wir Entomologen nicht alle unsere anderen Projekte vorerst zur¨¹ckstellen und diese Vielfalt dokumentieren, solange es sie noch gibt?? Diese Frage bleibt unbeantwortet im k¨¹hlen und trockenen Raum hinter den vier T¨¹ren.