Systemen den Puls fühlen

Schon kleine St?rungen in Infrastruktursystemen k?nnen fatale Folgen haben. Um das zu verhindern, setzen Forschende und Praktiker auf verschiedensten Ebenen an. Vier Beispiele.

Skyline
Nicht nur in Singapur: Planerische Entscheide beeinflussen die Resilienz urbaner Systeme langfristig. (Bild: Colourbox)

Urbane Systeme: Resilienz erh?hen

Von Haus aus ist Bo?idar Stojadinovi? Spezialist für erdbebensicheres Bauen. Heute befasst er sich mit urbanen Systemen und wie man sie resilienter gegen St?rungen machen kann. ?Systemisches Engineering wurde für die Resilienzforschung immer wichtiger?, erkl?rt der Professor für Strukturdynamik und Erdbebeningenieurwesen. So ist es kein Wunder, dass er nun im Future Resilient Systems Programme in Singapur ein Forschungscluster leitet, bei dem es um alles andere, nur nicht um Erdbeben geht.

Ziel ist vielmehr, die Resilienz von dicht verflochtenen urbanen Systemen, wie Singapur eines darstellt, zu verstehen und im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen zu verbessern. Klimawandel und Raumknappheit sind die zentralen Probleme, mit denen Singapur sich für die Zukunft konfrontiert sieht. Deshalb sind langfristig vorausschauendes Planen und eine rechtzeitige Anpassung der st?dtischen Infrastruktur gefragt.

Mit Forschenden der Nanyang Technological University NTU in Singapur und der National University of Singapore NUS entwickelt Stojadinovi? ein umfassendes Computermodell, ein digitales Abbild der Stadt, mit dem sich die urbanen Systeme, Ver?nderungen und ihre Folgen simulieren lassen. Es umfasst alle Geb?ude, die damit verbundenen Infrastruktursysteme wie Energie- und Wasserversorgung, aber auch Nutzerinteraktionen. Grundlage des Modells ist eine Computersoftware, die ursprünglich für milit?rische Kriegsspiele entwickelt wurde und im Gaming breite Verwendung findet.

Die Software erlaubt es, verschiedene Simulationen von unterschiedlichen Systemen selbstst?ndig ablaufen zu lassen und Informationen zwischen ihnen auszutauschen. ?Das ist entscheidend?, sagt Stojadinovi?. Denn urbane Systeme sind sehr komplex und die einzelnen Teilsysteme beeinflussen sich gegenseitig. ?Einzelne Systeme zu modellieren und zu optimieren, funktioniert heute schon recht gut. Doch wie sich Systeme gegenseitig beeinflussen, verstehen wir oft noch zu wenig.? Das Modell, das Stojadinovi? und seine Mitforschenden entwickeln, soll das ?ndern und den Expertenblick über die Grenzen einzelner Infrastruktursysteme hinaus aufs ganze urbane System lenken.

Kritische Netzwerke: Risiken managen

?Das hat niemand vorhersehen k?nnen?, heisst es oft, wenn Systeme versagen. Giovanni Sansavini, ETH-Professor für Zuverl?ssigkeits- und Risikoanalyse, arbeitet jeden Tag daran, diesen Satz zu widerlegen. Der Ingenieur erforscht Risiken in komplexen Netzwerken, zum Beispiel in voneinander abh?ngigen Energienetzen oder grossen Lieferketten.

Risiken in komplexen Systemen sind wissenschaftlich schwer fassbar. Denn die Systeme wachsen oder schrumpfen mit der Zeit, ?ndern ihre Struktur, umspannen oft den ganzen Globus und haben oft auch keinen fixen Betriebsmodus. Ein Stromnetz etwa ist diversen Einflüssen ausgesetzt. Und unter Last reagieren Systeme anders als im Normalbetrieb. Für ihre Experimente nutzen Sansavini und seine Gruppe deshalb Computermodelle. Risiken identifizieren sie anhand eines wissenschaftlichen Ansatzes, der sich Unsicherheitsquantifizierung nennt.

Dabei berücksichtigen die Forschenden alle erdenklichen Arten von Einwirkungen, Fehlern und St?rungen – und beobachten, wie sich das modellierte Netzwerk verh?lt. Sogenannte Monte-Carlo-Simulationen erlauben es, das Zusammenwirken unz?hliger St?rungen zu analysieren. Darin liegt ein Schlüssel, um verborgene, sogenannt systemische Risiken zu finden. Denn oft wird in komplexen Systemen die Verkettung von St?rungen zum Problem. So geschehen beim grossen Stromausfall in Italien im Jahr 2003, dessen Ursache automatische Systeme waren, die unter der Last kaskadenartig abschalteten.

Anhand von Sansavinis Modellen lassen sich Risiken nicht nur identifizieren, sondern auch quantifizieren. Es l?sst sich ermitteln, welche Kombinationen von St?rungen die schlimmsten Folgen für ein System haben und wie wahrscheinlich diese sind. Wenn man diese Szenarien kennt, kann man Systeme entsprechend schützen. Bei Energienetzen zum Beispiel, indem man sie flexibler und unabh?ngiger von einzelnen Quellen macht, indem man Frühwarnsysteme aufbaut, ihre Schwachstellen technisch verbessert oder indem man ihnen die F?higkeit verleiht, nach St?rungen schnell wieder zum Normalzustand zurückzukehren. ?Allerdings k?nnen wir Systeme noch so robust bauen, Menschen machen Fehler und Unvorhergesehenes geschieht?, sagt Sansavini. Das Gute daran: Auch diese Fehler lassen sich virtuell nachbilden, um das System für die n?chste St?rung besser zu verstehen und zu schützen.

Kompelexe Anlagen: Ausf?lle voraussehen

Flugzeugtriebwerk
ETH-Forschende k?nnen die Lebensdauer von Flugzeugtriebwerken mit lernenden Algorithmen prognostizieren. (Bild: Colourbox)

Olga Fink und ihr Team befassen sich mit St?rungen bei komplexen Anlagen – von Flugzeugen über Gasturbinen bis hin zu Infrastruktursystemen wie Eisenbahnen. Die Professorin für intelligente Instandhaltungssysteme arbeitet dazu mit lernenden Algorithmen. Dabei k?nnen die ?berwachungssysteme auf verschiedenen Stufen ansetzen: Es kann darum gehen, Fehlzust?nde einer Anlage zu detektieren, aber auch darum, verschiedene Ausfallarten zu diagnostizieren. Anspruchsvoller ist es, Vorhersagen zu treffen, wann der n?chste Ausfall stattfinden k?nnte. Und schliesslich geht es um die sogenannte pr?skriptive Instandhaltung. ?Wir versuchen dabei, Prognosen zu machen und den Betrieb einer Anlage so zu regeln, dass man ihre Lebensdauer verl?ngern kann?, erkl?rt Fink. Dazu lernen intelligente Algorithmen von historischen und von in Echtzeit verfügbaren Zustandsüberwachungs- und Betriebsdaten.

Doch lernende Algorithmen brauchen sehr viele Daten. Das ist ein Problem. ?St?rungsf?lle sind in sicherheitsrelevanten Anlagen die Ausnahme – deshalb gibt es dazu eben nicht so viele Daten, wie eigentlich n?tig w?ren?, sagt Fink. So greifen die Forschenden zu mehreren Tricks: ?Wir arbeiten beispielsweise mit Daten, die den Normalzustand der Anlagen abbilden, und bringen dem Algorithmus bei, auf Abweichungen zu achten.? Manchmal hilft es auch, Daten von ?hnlichen Anlagen hinzuzuziehen und sie auf die jeweilige Anlage zu adaptieren. Oft ist es trotzdem nicht m?glich, genügende Datenmengen zu erhalten.

Deshalb kombinieren die Forschenden ihre Algorithmen mit physikalischen Modellen, die das zu überwachende System simulieren, oder reichern die KI-Modelle mit physikalischem Expertenwissen an. Damit brauchen die Algorithmen weniger Daten, werden aber auch besser interpretierbar für Fachexperten, die auf Basis der Algorithmen Entscheidungen treffen müssen. So konnten die Forschenden in einem Projekt mit der NASA die Lebensdauer von Flugzeugtriebwerken prognostizieren. Dies ist eines der Projekte, auf das Olga Fink besonders stolz ist. Frühdetektionen von St?rungen gelingen n?mlich allgemein schon recht gut. Lebensdauerprognosen aber, sagt sie, seien quasi der heilige Gral des Forschungsgebiets.

Heikle Forschungseinrichtungen: auf Redundanz setzen

Für Walter Iten, Leiter der Abteilung Betrieb der ETH Zürich, geh?rt das Management von St?rungen zum Alltag. Seine Abteilung ist verantwortlich für das technische und infrastrukturelle Management aller ETH-Geb?ude und -Anlagen. Die gr?ssten Probleme stellen für Iten Stromunterbrüche dar: ?Ohne Strom l?uft gar nichts.? Deshalb setzt die ETH auf Redundanz. So kann der Betrieb in einem Teil des ETH-Standorts Zentrum von zwei verschiedenen Unterwerken Strom beziehen. Kommt es doch einmal zu einem gr?sseren Ausfall, kommen Diesel-Notstromaggregate für die wichtigsten Bereiche zum Einsatz. Und für besonders heikle Forschungsanlagen wird mit Hilfe von Batterien eine unterbruchlose Stromversorgung gew?hrleistet.

Eine vorausschauende Wartung aller Anlagen und Geb?ude ist zudem das A und O, wenn es darum geht, St?rungen aller Art gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ein IT-Wartungstool hat die Betriebsstunden von Anlagen und Wartungstermine im Blick und l?st fristgerechte Wartungsauftr?ge aus. Daneben spielt die ?berwachung von Anlagen mittels Sensoren eine immer gr?ssere Rolle, um spontan auftretende St?rungen zu erkennen. Die Daten k?nnen von den Betriebsmitarbeitenden remote via Computer abgerufen werden, und sie k?nnen so auch bis zu einem gewissen Grad in den Betrieb eingreifen. Noch sind das System zur Anlagenüberwachung und das Wartungstool nicht miteinander verbunden. Angesichts der Fortschritte in Sensortechnik und KI ist das jedoch nur noch eine Frage der Zeit.

Dieser Text ist in der Ausgabe 21/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.

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