Was sind Störungen und wie sollen wir sie bewerten?

St?rungen erfahren wir als Abweichungen von Erwartungen. Nicht selten erleben wir sie als Verunsicherung oder Erschütterung. Sind St?rungen deshalb als etwas Schlechtes zu bewerten? Der philosophische Essay geht dieser Frage nach.

Lutz Wingert
Lutz Wingert. (Bild: zVg)

Meistens sind sie l?stig, oft ?rgerlich, manchmal verst?rend. Auch geben sie mitunter zu denken oder wachsen sich aus: St?rungen. Der dr?hnende Presslufthammer unter dem Bürofenster ist eine l?stige St?rung der Konzentration. Die Durchsage ?St?rung im Betriebsablauf? der SBB l?sst ?rger aufkeimen. Die diagnostizierten Herzrhythmusst?rungen verst?ren oder geben einem zu denken. Und die St?rungen von ?kologischen Systemen wachsen sich zunehmend aus und drohen umzukippen in eine Zerst?rung unserer ?kologischen Nische.

St?rungen sind Abweichungen von normalen Zust?nden, Prozessen, Praktiken, Haltungen, die der Erfüllung von Funktionen und Massst?ben dienen oder die als Erfüllung von Funktionen und Massst?ben gelten. Herzflimmern klingt vielleicht für lyrische Naturen romantisch, meint aber buchst?blich so etwas Ernstes wie Herzrhythmusst?rungen. Beim Kammerflimmern weicht die Herzkammererregung von der normalen Grundfrequenz ab. Das behindert oder blockiert sogar eine wirksame Füllung und Entleerung der Herzkammern, st?rt also die Funktion des Herzens, Blut zu pumpen. ?hnlich st?rt der überm?ssige Zufluss von Phosphor oder Stickstoff aus der Intensivlandwirtschaft in Gew?sser und Meere das dynamische Gleichgewicht zwischen dem Aufbau und Abbau von Phytoplankton. Dieses Gleichgewicht ist funktional für die Artenvielfalt und damit für die Widerst?ndigkeit eines ?kologischen Systems gegenüber ver?nderten Umweltbedingungen. (Unter anderem senkt die Algenblüte den Sauerstoffgehalt in tieferen Wasserschichten, was Fischeier absterben, Kleinstlebewesen wie Würmer und Krebse ersticken und andere Tiere fliehen l?sst.)?1

St?rungen unterscheiden sich von Zerst?rungen dadurch, dass sie behoben werden k?nnen. Nicht nur bei den SBB. Auch Algenteppiche k?nnen – bis zu einem gewissen Grad – abgebaut werden, und mit einem Defibrillator kann die ?rztin das Kammerflimmern beheben. Manche St?rungen k?nnen auch vorhergesehen und so verhindert werden. Strassensperren und Bannmeilen um Amtssitze halten st?rende Demonstranten von den Zentren der Macht ab. Ebenso vermag man St?rungen zu neutralisieren.

Presslufth?mmer k?nnen Menschen beim Rechnen st?ren, Sensoren k?nnen den Algorithmus eines Autopiloten beim Berechnen der Flugbahn eines Flugzeugs st?ren, da sie in ihrer Verl?sslichkeit durch Extremtemperaturen oder Vibrationen gemindert werden. Und ?hnlich, wie jemand eine robuste Konzentrationsf?higkeit hat, kann ein Algorithmus robust gegen auftretende St?rungen sein und diese neutralisieren.?2 Eine solche Robustheit ist übrigens auch eine wesentliche Eigenschaft von jemandem, der über eine Sache Bescheid weiss. Er oder sie l?sst sich nicht von Umst?nden irritieren, die nichts an der Wahrheit seiner oder ihrer Meinung über die Sache ?ndern. Wissen ist ein st?rungsfestes ?berzeugtsein von dem, was wahr ist, oder von dem, was getan werden sollte oder gar getan werden muss.

TV Testbild
Man kann ein ?bel in Kauf nehmen, aber deshalb h?rt es nicht auf, ein ?bel zu sein. (Bild: Adobe Stock)

Wenn St?rungen von uns registriert werden, dann erfahren wir sie als Abweichungen von Erwartungen. Nicht selten erleben wir die erfahrene Abweichung als Verunsicherung oder Erschütterung einer Erwartung. Sind St?rungen deshalb als etwas Schlechtes zu bewerten? Nein, nicht zwingend. Die bildende Kunst jenseits des religi?sen Kults und h?fischer Inszenierungen von Historien und Autorit?ten zielt ja mitunter kunstvoll auf die St?rung von Stereotypen, die unsere Wahrnehmung der Welt leiten und die unsere Erwartungen begründen, was sich den Sinnen zeigen wird. Wenn sie subtil genug ist, macht sie diese Stereotype bewusst und l?dt zu anderen Wahrnehmungsweisen ein. St?rungen k?nnen auch die angenommenen Funktionen und die geltenden Massst?be anfechten, die den Erwartungen zu Grunde liegen.

Das tun zum Beispiel Demonstranten, die zivilen Ungehorsam üben, indem sie sich auf der Strasse querstellen und über ein Demonstrationsverbot gewaltfrei hinwegsetzen. Sie entt?uschen die prognostische Erwartung der Autofahrer, dass sie um diese Uhrzeit zügig durch die Innenstadt kommen werden. Und sie erschüttern die normative Erwartung der politischen Autorit?ten, dass die Bürgerinnen stillhalten sollen. Die Demonstranten fechten begrenzt das massstabsbildende Gebot des Rechtsgehorsams an. Sie tun das vermeintlich oder zu Recht im Namen von gewichtigeren Massst?ben der Rechtsgemeinschaft wie zum Beispiel einer gerechteren Verteilung des gemeinsam erwirtschafteten Wohlstandes. ?Ill fares the land, to hastening ills a prey / Where wealth accumulates, and men decay?, heisst es protestierend bei dem irischen Dichter Oliver Goldsmith.

?Wissen ist ein st?rungsfreies ?berzeugtsein von dem, was wahr ist.?Lutz Wingert

Wie man St?rungen bewerten soll, h?ngt davon ab, ob und wie sehr die entt?uschten Erwartungen berechtigt sind. Das wiederum h?ngt auch davon ab, was man von den zugrunde liegenden Funktionen und Massst?ben halten soll. Herzrhythmusst?rungen sind ein ?bel, weil man nicht wirklich wollen kann, dass das eigene Herz nicht tut, was es tun soll. Gewiss, man kann ein ?bel in Kauf nehmen, aber deshalb h?rt es nicht auf, ein ?bel zu sein. Demgegenüber m?gen St?rungen des Verkehrs durch Demonstranten eine Petitesse sein. Doch ein Rechtsungehorsam in einem demokratischen Rechtsstaat ist es nicht. So entscheidet sich die Bewertung der St?rung hier daran, ob der zivile Ungehorsam einen sehr wichtigen Beitrag zu dem liefert, was gut für die Bürgerschaft ist. Im Vergleich dazu scheint es keinen Zweifel zu geben, wie die St?rungen eines ?kosystems bewertet werden sollen. Wer spricht sich heute noch gegen ?ko aus? Selbst gegen Artenvielfalt hat kaum jemand noch etwas, solange es bei Rhetorik bleibt. Doch das schliesst einen Dissens in der Bewertung nicht aus, n?mlich zum Beispiel, ob die Beeintr?chtigung der Artenvielfalt durch die St?rung eines ?kosystems schlecht ist, weil die Erfüllung einer Funktion dieser Vielfalt gest?rt ist, n?mlich uns Menschen zu nützen; oder ob sie schlecht ist, weil die Vielfalt der Arten einen Eigenwert hat.

Aus Meinungsverschiedenheiten über die Bewertung von St?rungen folgt jedoch nicht, dass es keine objektive, richtige Bewertung geben kann. Die Existenz von St?rungen in Gestalt des Einspruchs und des Unwillens anderer oder in Gestalt eines Widerstands der Natur h?lt hier eine Lehre bereit. Erwartungen von uns darüber, was der Fall ist oder sein soll, sind das eine. Was objektiv der Fall ist oder sein soll, ist das andere. Die Erschütterung von Erwartungen durch St?rungen lehrt uns bisweilen schmerzlich, diesen Unterschied zu beachten. Im Wissen um diesen Unterschied  experimentiert man in den empirischen Wissenschaften und diskutiert man in der Demokratie. Man setzt die eigenen Erwartungen dem Test einer Realit?t aus, die st?ren kann.

Dogmatiker tun das nicht. Sie neutralisieren St?rungen tendenziell um den Preis der Realit?tsverweigerung. Wer zu Recht Wissen über die Erfahrungswelt beansprucht, verh?lt sich anders. Er oder sie rechnet damit, dass St?rungen nicht bloss vernachl?ssigbare Irritationen sind, sondern dass sie einen eigenen Irrtum über die Realit?t anzeigen. Denn in St?rungen zeigen sich uns Realit?ten, seien es naturhafte oder soziale Realit?ten, als etwas Unverfügbares. Wissen ist auch ein irrtumssensibles ?berzeugtsein von dem, was wahr oder richtig ist. Wer glaubt, St?rungen komplett ausschalten zu k?nnen, der glaubt, die Realit?ten zu einer Knetmasse in unseren H?nden machen zu k?nnen. Dieser Glaube ist nicht st?rend, sondern zerst?rerisch.

Dieser Text ist in der Ausgabe 21/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.

Referenzen

1 Dank an Dr. des Jér?me Léchot für Hinweise auf Details.
2 Ich danke meinem Studenten Jonas Derissen für den Hinweis auf dieses Beispiel.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert