Im Labyrinth offenbaren Bakterien ihre Individualität

Sie gelten als die einfachsten Lebensformen. Doch selbst Mikroorganismen nehmen ihre Umwelt wahr und k?nnen sich aktiv fortbewegen. So erkennen sie sowohl Nahrung als auch sch?dliche Substanzen und bewegen sich auf diese zu oder wenden sich ab. Dabei orientieren sie sich am Konzentrationsgef?lle des jeweiligen Stoffes in der Umgebung. Das Leben einer Mikrobe l?sst sich somit als eine ununterbrochene Abfolge von Entscheidungen auf der Basis chemischer Gradienten verstehen.

Die F?higkeit von Zellen, Stoffe gezielt anzusteuern oder zu meiden, wird in der Fachsprache Chemotaxis genannt. Bislang haben Wissenschaftler die chemotaktischen Eigenschaften von Bakterien in der Regel als einheitliches Merkmal einer Art oder Population betrachtet ¨C als w¨¹rden sie sich alle Zellen mehr oder weniger gleich verhalten. Damit gen¨¹gen Durchschnittswerte, um ihre Bewegungen zu beschreiben. Forschende der ETH Z¨¹rich haben nun die Chemotaxis von Bakterien in einem Verhaltensexperiment beobachtet. ?Wer genau hinschaut, entdeckt sogar innerhalb einer Population genetisch gleicher Zellen erstaunliche Verhaltensunterschiede?, sagen Mehdi Salek und Francesco Carrara, die beiden Erstautoren einer soeben in externe SeiteNature Communicationscall_made ver?ffentlichten Studie.

Mikroben im T-Labyrinth

Mit ihren Kollegen in der Forschungsgruppe um Professor Roman Stocker vom Institut f¨¹r Umweltingenieurwissenschaften haben sie ein spezielles Mikrofluidik-System entwickelt, mit dem sie die Bewegung Tausender einzelner Bakterien in einer Fl¨¹ssigkeit auf kleinstem Raum beobachten k?nnen. Das System besteht aus einer Reihe von engen Kan?len, die sich auf einer d¨¹nnen Glasplatte verzweigen und so eine Art mikroskopisches Labyrinth bilden, durch das die Bakterien schwimmen.

Labyrinthe werden in der Verhaltensforschung oft benutzt, um etwa die Vorlieben von Insekten oder W¨¹rmern (aber auch von Pflanzenwurzeln) zu untersuchen. Mit ihrem Mikrofluidik-System wenden die ETH-Forscher diese Methode erstmals im mikroskopischen Massstab an. Ihr Labyrinth gleicht einem Stammbaum: mit einem Startkanal, der sich immer weiter nach unten ver?stelt, wo auch die Konzentration eines chemischen Lockstoffs am gr?ssten ist.

Entscheidungen an der Weggabel

Die Bakterien beginnen alle am gleichen Ort ¨C und trennen sich im Kanalsystem zusehends auf, weil sie bei jeder Verzweigung entscheiden m¨¹ssen, ob sie nach oben oder nach unten weiterschwimmen. Ihre chemotaktischen F?higkeiten verleihen den Bakterien spezialisierte Rezeptoren, mit denen sie den Lockstoff erkennen. Zudem haben sie etwa ein halbes Dutzend Flagellen, die entweder im Uhrzeigersinn oder im Gegenuhrzeigersinn rotieren k?nnen. ?Je nachdem wechselt die Bakterie ihre Richtung oder sie schwimmt in eine Richtung weiter?, erl?utern Salek und Carrara.

Die ETH-Forscher fanden selbst innerhalb einer Gruppe genetisch identischer Zellen ¨C also in Klonen ¨C Individuen, die dem Lockstoff gut folgen konnten (indem sie bei den Verzweigungen jeweils den Weg nach unten zur h?heren Konzentration einschlugen) ¨C aber auch solche, die sich im Labyrinth weniger gut zurechtfanden. Die Wissenschaftler erkl?ren sich diese Verhaltensunterschiede damit, dass identische Gene in Geschwisterzellen unterschiedlich aktiv sind. Das f¨¹hrt dazu, dass die Zellen ¨¹ber verschiedene Mengen der entsprechenden Proteine verf¨¹gen. ?In jeder Zelle herrscht eine Art biochemisches Rauschen. Diese fundamentale Zufallskomponente vergr?ssert die Erscheinungs- und Verhaltensvielfalt?, so die Forscher.

Erfolgreiche Population aus Individualisten

Die Vielfalt oder Heterogenit?t in der Chemotaxis kann f¨¹r die Bakterie einen evolutiven Vorteil bedeuten. Denn w?hrend die chemotaktisch geschickten Individuen rasch lokal stabile Nahrungsquellen ausmachen und ausbeuten k?nnen, wagen sich ihre vom Lockstoff weniger beeinflussten Schwesterzellen eher in neues Territorium ¨C wo sie in einer sich st?ndig ?ndernden Umwelt auf zus?tzliche Nahrungsquellen stossen k?nnen.

?In den biomedizinischen Lebenswissenschaften ist die nichtgenetische Vielfalt schon l?nger bekannt, sie spielt beispielsweise bei der Entwicklung von Antibiotikaresistenzen eine entscheidende Rolle. Nun zeigen die Umweltwissenschaften, dass auch grundlegende Eigenschaften wie Fortbewegung und Chemotaxis von dieser Vielfalt gepr?gt sind ¨C und erweitern den Begriff der Individualit?t von Bakterien?, sagt Roman Stocker. Er nimmt an, dass das unterschiedliche individuelle Verhalten von Bakterien relevant ist, um auch Prozesse wie etwa bakterielle Infektionen von Korallen oder den mikrobiellen Abbau von ?lverschmutzungen besser zu verstehen.