«Wir wollen jetzt näher zu den Patienten kommen»

Heute Freitag werden zwei grosse nationale Initiativen für personalisierte Medizin lanciert: Swiss Personalized Health Network (SPHN) und Personalized Health and Related Technologies (PHRT). Proteomik-Pionier Rudolf Aebersold, Stoffwechselforscher Markus Stoffel und ETH-Vizepr?sident Detlef Günther sprechen über die Weichen, die in diesem Bereich gestellt werden.

ETH News: Die personalisierte Medizin ist unter Forschenden derzeit ein grosses Thema. Man verspricht sich Behandlungsm?glichkeiten und Medikamente, die besser auf den Einzelnen zugeschnitten sind. Warum sprechen wir dabei so oft von Daten, wenn von personalisierter Medizin die Rede ist?
Markus Stoffel:
Die Fortschritte in der personalisierten Medizin haben wir unter anderem den Fortschritten in den datengetriebenen Technologien und Analyseverfahren zu verdanken. Schon immer wollten ?rzte ihren Patienten die fu?r ihren spezifischen Fall beste Behandlung anbieten. Das wird jetzt dank solcher Verfahren viel pr?ziser als bisher m?glich.

Rudolf Aebersold: Aus meiner Sicht sind die erhobenen Daten allein allerdings unzureichend fu?r die personalisierte Medizin. Die Daten werden dann besonders nu?tzlich, wenn sie zum besseren Verst?ndnis der einer Krankheit zugrundeliegenden Mechanismen fu?hren, um gezielter medizinisch eingreifen zu k?nnen.

Detlef Günther: Unser Ziel ist es, komplexe biologische Prozesse effektiv beschreiben zu k?nnen. Dabei generieren wir natu?rlich eine Menge an Daten, die ein einzelner Forscher oder Arzt gar nicht erfassen kann. Deshalb mu?ssen wir zum einen die Informationsverarbeitung vorantreiben und zum anderen das Verst?ndnis der zugrundeliegenden Prozesse erweitern. Und das fu?r m?glichst viele Krankheitsbilder. Das geht nicht mehr ausschliesslich im Labor. Dazu mu?ssen wir n?her zum Patienten kommen.

?Daten allein sind unzureichend. Man muss auch die zugrundeliegenden Mechanismen verstehen.?  Rudolf Aebersold, Professor fu?r Systembiologie an der ETH Zu?rich und an der Universit?t Zu?rich
Rudolf Aebersold
Bild: Victoria Loesch & Christian Gerber

Welchen konkreten Nutzen wird das fu?r mich als Patient haben?
Aebersold:
Wir wollen beispielsweise mittels molekularer und ph?notypischer Daten von Patienten besser voraussagen k?nnen, welche der Patienten voraussichtlich auf bestimmte Therapien gut ansprechen und welche eher nicht. In der Onkologie werden diese Techniken bereits eingesetzt. L?ngerfristig erhoffen wir uns so auch neue M?glichkeiten zur Diagnose und Therapie. Heute k?nnen wir im Genom und im Zusammenspiel der zellul?ren Moleküle schon sehr viele Daten erheben, aber wir verstehen oft noch nicht so genau, wie sich das im Einzelfall klinisch auswirkt. Gegenw?rtige Verfahren machen beispielsweise statistische Aussagen u?ber Risikofaktoren fu?r bestimmte Krankheiten, die in vielen F?llen bedingt nu?tzlich sind.

Das so gewonnene Wissen kann auch sehr belastend sein…
Stoffel:
Deshalb ist Mitbestimmung durch die Patienten wichtig. Wenn genetisch getestet wird, ob eine Pr?disposition fu?r eine Krankheit vorliegt, muss sich der Patient fragen: Will ich dieses Wissen u?berhaupt haben? Das ist insbesondere deshalb ein Problem, weil wir Risiken fu?r Erkrankungen testen k?nnen, fu?r die wir noch keine Therapien kennen. Das ist ein grosses Dilemma, fu?r die Patienten und auch fu?r die ?rzte. Zus?tzlich stellt sich die Frage, wie Krankenversicherungen mit solchem Wissen umgehen. Das sind grosse Herausforderungen, auf die es a priori keine einfachen Antworten gibt.

Weshalb sollte ich meine Daten dennoch zur Verfu?gung stellen?
Günther: Je mehr Daten wir erzeugen und je mehr Wissen wir vernetzen k?nnen, desto schneller werden wir Wege finden, um mehr Krankheiten zu heilen. ?brigens sollten wir nicht nur von Patientendaten sprechen. Sehr nu?tzlich w?ren auch Daten von gesunden Menschen. Es w?re wunderbar, wenn wir solche Daten u?ber die Zeit sammeln und beobachten k?nnten, um herauszufinden, wie sich die Voraussetzungen fu?r Gesundheit und Krankheit im Lauf des Lebens entwickeln. Leider ist das Bewusstsein fu?r die Bedeutung solcher Daten, aber auch fu?r die Rechte im Umgang damit, in der Schweiz noch nicht so entwickelt wie in manchen anderen L?ndern.

Detlef Günther
Bild: Markus Bertschi
?Je mehr Wissen wir vernetzen k?nnen, desto schneller werden wir Wege finden, noch mehr Krankheiten zu heilen.?    Detlef Günther, Vizepr?sident fu?r Forschung und Wirtschaftsbeziehungen der ETH Zu?rich

Welche Daten sind heute fu?r eine personalisierte Medizin schon verfu?gbar?
Aebersold:
Die meisten molekularen Daten, die wir in grosser Menge und guter Qualit?t heute zur Verfu?gung haben, sind genomische Daten. Aber wir haben noch kein theoretisches Modell, das uns erlaubt, pr?zise vorherzusagen, wie sich eine genetische Ver?nderung auf die Physiologie einer Zelle oder einer Person auswirkt. Die Erarbeitung solcher Modelle, ausgehend von den erhobenen Daten, ist eine grosse Herausforderung.

Stoffel: Es gibt zwar viele Daten weltweit, die dazu gefu?hrt haben, dass wir inzwischen beispielsweise 5000 Erkrankungen kennen, die von einzelnen Genen erzeugt werden. Um als Forscher eigene Hypothesen in klinischen Studien testen zu k?nnen, reichen diese aggregierten Daten aber nicht. Dafu?r mu?ssen wir auf Daten einzelner Patienten innerhalb eines geografischen Umfelds zugreifen k?nnen. Dabei werden heikle Themen wie Datenaustausch, Datenschutz, Verbindungen zwischen Kliniken und Forschungsanstalten extrem wichtig. Die Voraussetzungen dafu?r werden in der Schweiz gerade geschaffen.

Sie sprechen die zwei grossen Initiativen an, an denen die ETH beteiligt ist.
Günther:
Die Initiativen Swiss Personalized Health Network (SPHN) und Personalized Health and Related Technologies (PHRT) zielen darauf ab, in der Schweiz eine Zusammenarbeit der verschiedenen medizinisch forschenden Institutionen zu initiieren und Datenaustausch zu erm?glichen. So geht es beispielsweise darum, dass Schweizer Spit?ler und Kliniken für bestimmte Krankheitsbilder ein Minimum an Daten definieren, die so erfasst werden, dass man sie aus verschiedenen Spit?lern in Beziehung zueinander setzen kann. Diese Informationen sollen in elektronischen Dossiers zur Verfu?gung stehen, so dass wir sie etwa mit Daten aus Genomik- oder Proteomik-Datenbanken verbinden k?nnen. Damit wir m?glichst schnell erste Daten in die Forschungspraxis u?berfu?hren k?nnen, haben wir sogenannte Treiberprojekte fu?r bestimmte Krankheitsbilder definiert.

In welchen Gebieten finden diese Projekte statt?
Aebersold:
Ein sehr geeignetes Gebiet ist die Onkologie. Dort werden schon seit einigen Jahren sehr intensiv genomische und klinische Daten gesammelt. Letztere geben Aufschluss daru?ber, wie Patienten auf Therapieans?tze ansprechen.

Und welche Erfahrungen haben Sie mit den Initiativen bereits gemacht?
Aebersold:
In Gebieten, wo es vor allem um technische Probleme geht, k?nnen wir relativ schnell Fortschritte erzielen. Schwierig wird es bei klinischen Daten. Hier geht es um ganz grunds?tzliche inhaltliche und ethische Fragen: Wie soll beispielsweise das Formular aussehen, mit dem die Patienten ihr Einverst?ndnis zur Nutzung der Daten geben? In manchen Kliniken besagen diese Formulare, dass coincidential findings, also beispielsweise neue Krankheitsrisiken, die man zuf?llig entdeckt, dem Patienten mitgeteilt werden ?mu?ssen?, bei anderen Kliniken heisst es ?k?nnen?. Was ist die bessere Praxis? Solche Fragen bedingen intensive Diskussionen mit den verschiedenen Instanzen und Betroffenen.

Günther: Ein anderes Problem: Was passiert beispielsweise, wenn ein Spital seine Daten weitergibt und dabei ein Leck entsteht? In solchen Fragen versuchen wir, den allersichersten Weg zu gehen, der dann natu?rlich nicht immer der schnellste ist.

Wie sinnvoll ist es, so ein Projekt auf nationaler Ebene anzupacken?
Stoffel:
Diese Frage ist insbesondere fu?r die Schweiz berechtigt. Fu?r viele Krankheiten ist eine nur nationale Forschung nicht sinnvoll, weil sie keinen ausreichenden Zugang zu den n?tigen Patientenzahlen hat. Denken wir an die grosse Gruppe der verschiedenen seltenen Erkrankungen, die man nur auf internationaler Ebene erforschen kann. Umso wichtiger ist es, dass in einem kleinen Land wie der Schweiz die Daten nicht zersplittert bleiben.

Günther: Es gibt viele L?nder, die uns einiges voraushaben. England zum Beispiel führt jetzt gerade eine grosse Populationsstudie durch, bei der eine halbe Million Menschen prospektiv, also ohne konkreten Verdacht auf eine Erkrankung, untersucht wird.

Aebersold: Die Frage ist, wie man sich als relativ kleines Land so organisieren kann, dass man als wertvoller und ernsthafter Partner in internationale Verbu?nde und Kooperationen miteinbezogen wird. K?nnen wir hier einfach warten, bis in England diese Populationsdaten alle erhoben sind? Wenn man nichts beizutragen hat, ist man immer in der zweiten Reihe. Diese schmerzliche Erfahrung haben Schweizer Forschende bereits einmal gemacht, n?mlich als die Schweiz bei der Entzifferung des Genoms abseits stand. Das Ziel unserer Initiativen ist, in der Schweiz eine starke Community zu bilden, die sich in das internationale Netzwerk einbringen kann.

?Fu?r viele Krankheiten ist eine nur nationale Forschung nicht sinnvoll.?Markus Stoffel, Professor am Institut fu?r Molecular Health Sciences
Markus Stoffel
Bild: Victoria Loesch & Christian Gerber

Kann die Gemeinschaft der Forschenden an diesem Punkt alleine agieren? Müssen nicht wichtige Entscheide mit Spit?lern und der Gesellschaft gemeinsam getroffen werden?
Günther:
Das stimmt. Solche Fragen sind fu?r die Initiativen zentral. Dieser Prozess braucht allerdings Zeit. Wir haben schon etwas Zeit gebraucht, um nur einen Konsens zu finden, woru?ber wir reden und was wir wollen. Es geht ja auch darum, welche Rollen die einzelnen Partner in diesem interdisziplin?ren Feld einnehmen werden, und da mu?ssen wir umdenken. Wenn wir nicht rechtzeitig erkennen, dass es nicht um die Positionierung der einzelnen Disziplinen, sondern um das Zusammenspiel im ganzen Uhrwerk geht, wird es nicht funktionieren. Zurzeit ist es nach meiner Erfahrung noch schwierig, die Institutionen dazu zu bringen, fu?r das gemeinsame Ziel die Einzelinteressen etwas zuru?ckzunehmen.

Betrifft das auch die Medizinausbildung?
Günther:
Ja, wenn mehr und mehr Diagnosen computergeneriert werden, mu?ssen wir auch ?rzte ausbilden, die verstehen, wie diese Diagnosen zustande kommen und was sie daraus ableiten k?nnen. Ich bin u?berzeugt, dass sich auch in der Ausbildung von Pharmazeuten und Biologen noch manches ?ndern wird, damit man die M?glichkeiten der Informationstechnologien richtig nutzen kann. Als technische Hochschule k?nnen wir hier natu?rlich einen besonders grossen Beitrag leisten.

Stoffel: Die Medizinstudierenden, die an der ETH ausgebildet werden, lernen beispielsweise wesentlich mehr u?ber Genetik und Statistik als in der klassischen Medizinausbildung. Sie werden auch fru?her und intensiver an moderne Technologien, wie bildgebende Verfahren, herangefu?hrt. Wenn sie beispielsweise in der Anatomie Leichen sezieren, wird die Struktur auch computertomografisch abgebildet. So sehen die Studierenden gleich, wie sie sich in natura und im bildgebenden Verfahren pr?sentiert.

Was ist fu?r die Zukunft besonders wichtig?
Aebersold:
Ich hoffe, dass die aktuellen Programme helfen, dass ein kultureller Wandel entsteht, der zu besserer Vernetzung und Kooperation fu?hrt.

Günther: Ich wu?nsche mir, dass die Methoden, die wir erarbeiten, m?glichst schnell in die Kliniken kommen. Die N?he zum Patienten ist fu?r uns enorm motivierend.

Stoffel: Die gr?ssten Erfolge verzeichnete die personalisierte Medizin bisher bei seltenen Krankheiten und teilweise in der Onkologie. Sie sind oft auf innovative Forschende zuru?ckzufu?hren, die es gewagt haben, ihre L?sungen in kleinen Firmen weiterzuentwickeln. Innovationen kommen aus den Universit?ten. Ich hoffe, dass die Politik dies erkennt und uns auf diesem Weg weiter unterstu?tzt.

Initiativen

Zwei grosse Initiativen sollen die Forschung der Schweiz im Bereich personalisierte Medizin weiter st?rken und koordinieren:

Das externe SeiteSwiss Personalized Health Network (SPHN) ist eine nationale Initiative, um die Voraussetzungen fu?r den Austausch von gesundheitsbezogenen Daten zwischen Hochschulen und Kliniken zu schaffen.

externe SeitePersonalized Health and Related Technologies (PHRT) ist eine Initiative des ETH-Bereichs unter der Leitung der ETH Zu?rich. Im Fokus stehen Technologien für die personalisierte Medizin und die Entwicklung grosser und hochspezialisierter Forschungsinfrastrukturen auf dem Gebiet der translationalen medizinischen Forschung.

 

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert